Ein Virus hat unsere Eliten im Griff: Der Myside-Bias – Interview mit Keith E. Stanovich
Internationales Renommee bei der Erforschung des rationalen Denkens
Keith E. Stanovich gehört zu den meistzitierten zeitgenössischen Psychologen. Beispielsweise sein klassischer Artikel aus dem Bereich der Entwicklungs-Psychologie über den Matthäus-Effekt in der Bildung wurde in der wissenschaftlichen Literatur über 1.500 Mal zitiert. – In der letzten Zeit haben der Wissenschaftler und sein Team sich auf die menschliche Rationalität konzentriert und deren besondere Rolle als kognitive Kompetenz neben der Intelligenz herausgearbeitet. In diesem Zusammenhang prägte Stanovich unter anderem den Begriff Dysrationalität, um die Neigung von Individuen zu bezeichnen, irrational zu denken und handeln, obwohl sie über ausreichende Intelligenz verfügen. In ihrem letzten Buch „The Rationality Quotient: Toward a Test of Rational Thinking“, das 2016 veröffentlicht wurde, entwickelten Stanovich und seine Kollegen das Grundkonzept eines umfassenden Tests rationalen Denkens.
Maßgebliche psychologische Experten sind vom Konzept der Rationalitäts-Quotienten überzeugt wie ein Statement von Daniel Kahneman von der Princeton University – Gewinner des Nobelpreises für Wirtschaft 2002 – belegt:
Der Rationalitätsquotient ist ein bedeutender Fortschritt in der Psychologie der Rationalität. Er stellt die beste Analyse der kognitiven Fehler in der wissenschaftlichen Literatur dar und liefert überzeugende Argumente dafür, die Rationalität unabhängig von der Intelligenz zu messen.
Daniel Kahneman, 2016
Mancher von Stanovich psychologischen Kollegen leitet aus dessen Arbeiten zur Rationalität ab, dass auf der Basis des darin steckenden Wissens irrationales Denken auf Seiten – beispielsweise von kognitiven Eliten – wirkungsvoll eingedämmt werden kann. Dieser Schlussfolgerung widerspricht Keith E. Stanovich in seinem neuen Buch, das kurz vor der Veröffentlichung steht. Aus seiner Sicht behindert der sogenannte Myside Bias vielfach rationales Denken und Handeln insbesondere von politischen und intellektuellen Eliten. Ich hatte Gelegenheit, mir im Rahmen eines Interviews seine Analysen erklären zu lassen und mit Keith E. Stanovich über die daraus folgenden Konsequenzen für die Bewältigung aktueller globaler Krisen zu diskutieren.
Lesen Sie selbst:
Frage 1 – Motivation
Ich möchte mit einer Fragestellung beginnen, die wahrscheinlich bei der Einleitung Ihres neuen Buchs eine große Rolle spielt:
Wieso widmen Sie, nachdem Sie sich mit zahlreichen unterschiedlichen Verzerrungen menschlichen Urteilens auseinandergesetzt haben, ausgerechnet dem Myside Bias ein ganzes Buch? In der Vergangenheit hatten Sie und Ihre Kollegen sich in Ihrem Labor bereits auf die Untersuchung individueller Unterschiede in der Myside-Voreingenommenheit konzentriert. – Hat diese Urteilsverzerrung eine besonders nachteilige Wirkung?
Keith E. Stanovich #1 – Allgegenwärtigkeit der Myside-Verzerrung
Meine Gruppe untersuchte den Myside Bias seit dem Jahr 2000, aber mein spezieller Fokus darauf begann 2016, nachdem wir The Rationality Quotient veröffentlicht hatten. Am 8. November 2016 fanden in den Vereinigten Staaten Präsidentschaftswahlen statt, und die Art meiner E-Mail-Korrespondenz änderte sich plötzlich. Ich erhielt viele E-Mails, die implizierten, dass ich nun für meine Studienzwecke die perfekte Bevölkerungsgruppe hätte – Trump-Wähler -, die in den Augen meiner E-Mail-Kontaktpartner (die meisten von ihnen Vertreter sozialwissenschaftlicher Fakultäten an Universitäten) offensichtlich irrational waren.
Im Anschluss an die Wahl erhielt ich auch viele Einladungen, als Redner aufzutreten. Mehrere dieser Einladungen waren mit der subtilen (oder manchmal nicht ganz so subtilen) Implikation versehen, dass ich mich – im Anschluss des „theoretischen“ Teils meines Vortrags – auch über das mangelhafte rationale Denken der Wähler äußern sollte, die der Nation diese schreckliche Sache angetan hatten. Eine europäische Konferenz, die um meine Teilnahme bat, hatte sich zum Ziel gesetzt zu verstehen, wie das offensichtlich fehlerhafte Denken nicht nur der Trump-Wähler, sondern auch der Brexit-Wähler funktioniert. Ich – der Autor eines Tests zum rationalen Denken – wurde als der ideale Kandidat angesehen, um dieser Irrationalitäts-Deutung von Verhalten das Prädikat von Wissenschaftlichkeit zu verleihen.
Doch ich schrieb einen Essay, in dem ich all diesen Gesprächspartnern erklärte, dass ich ihnen nicht geben konnte, was sie wollten – und dass es bei keiner Definition von Rationalität Beweise dafür gab, dass Trump- und Clinton-Wähler signifikant unterschiedlich waren.
Nachdem ich den Essay geschrieben hatte, fiel mir auf, dass meine Gesprächspartner eine unserer Erkenntnisse über den Myside-Bias perfekt illustrierten, denn offenbar wurde deren Urteilsverzerrung in Bezug auf die Einschätzung der Rationalität von Trump-Wählern nicht durch Intelligenz oder Bildung abgeschwächt. Meine Kollegen waren intelligent und hochgebildet, aber ihr Glaube, dass die Trump-Wähler (oder die Brexit-Wähler) irrational waren, war ein perfektes Beispiel für den Myside-Bias. Sie schienen anzunehmen, dass Intelligenz zu ideologischer „Korrektheit“ führt. Eine solche Ansicht ist selbst höchst irrational.
Diese allgegenwärtige Verbreitung des Myside-Bias, sogar unter kognitiven Eliten, war es, die mich dazu brachte, mein neues Buch zu schreiben.
Frage Nr. 2 – Merkmale und Auftreten
Sie beziehen sich wahrscheinlich auf Ihren Essay „Were Trump Voters Irrational“, der im September 2017 auf Quillette veröffentlicht wurde.
Vor einiger Zeit – als ich diesen Essay las – muss ich zugeben, war ich anfangs schockiert, als Sie zeigten, dass es offenbar keine „Partei der Wissenschaft“ gibt:
Sie erklären an anschaulichen Beispielen, wie sich die Befürworter beider Parteien (Demokraten und Republikaner) offenbar darin unterscheiden, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse sie akzeptieren und welche wissenschaftlichen Fakten nicht ihren Moralvorstellungen entsprechen und deshalb ignoriert werden.
Worin sich die Befürworter aller Parteien nicht unterscheiden, ist Ihrer Meinung nach die Tatsache, dass sie systematisch kognitiv verzerren, was nicht zu ihrer Gruppenidentität passt.
Mein „Schock“ hat mich einerseits meine eigene Myside-Verzerrung und andererseits die Allgegenwärtigkeit dieser Störung deutlich spüren lassen.
Mit Blick auf Ihr neues Buch scheint also die drängende Fragestellung zu sein: Wo tritt dieser Myside-Bias regelmäßig auf? – Wie lässt er sich bei Einzelpersonen und im Gruppenverhalten feststellen?
Keith E. Stanovich #2 – Allgegenwart der Myside-Verzerrung
Sie haben in vielen Punkten Recht. Ich beziehe mich auf meinen 2017 in Quillette erschienenen Essay, in dem ich den Irrationalitäts-Vorbehalt gegenüber den Wählern analysierte und feststellte, dass die Forschungs-Literatur keine Hinweise darauf enthielt, dass die Trump-Wähler weniger rational (oder weniger intelligent oder weniger sachkundig) gewesen wären als die Clinton-Wähler. Im gleichen Essay zeigte ich, dass diese Schlussfolgerung ziemlich parallel zu der Feststellung steht, dass keine der politischen Parteien in den Vereinigten Staaten die Partei der Wissenschaft ist. Beide akzeptieren die Wissenschaft oder lehnen sie ab, je nachdem, ob die Folgerungen daraus mit der politischen Strategie übereinstimmen, die ihre ideologische Position kennzeichnet. Auf diese Weise haben Sie völlig Recht, wenn Sie die Feststellung zusammenfassen, dass Anhänger aller Ideologien ihr Verständnis von wissenschaftlichen Erkenntnissen verzerren, die nicht zu ihrer Gruppenidentität passen.
Und Sie haben Recht, wenn Sie auf diese Befunde reagieren, indem Sie die Allgegenwärtigkeit des Myside-Bias unterstellen. Das ist eines der wichtigsten Ergebnisse, die ich in dem neuen Buch skizziere. Die Forschung hat gezeigt, dass sich Myside-Voreingenommenheit in einer Vielzahl von Versuchssituationen zeigt: Menschen bewerten die gleiche verdienstvolle Handlung günstiger, wenn sie von einem Mitglied ihrer eigenen Gruppe ausgeführt wird, und bewerten eine negative Handlung weniger ungünstig, wenn sie von einer Reihe Vertreter ihrer eigenen Gruppe ausgeht; sie bewerten das identische Experiment günstiger, wenn die Ergebnisse ihre früheren Überzeugungen unterstützen, als wenn die Ergebnisse ihren früheren Überzeugungen widersprechen; bei der Suche nach Informationen wählen Menschen Informationsquellen aus, die wahrscheinlich ihre eigene Position unterstützen; und selbst wenn sie aufgefordert werden, ausgewogene Argumente vorzubringen, erzeugen Menschen stets mehr Argumente für ihre eigenen Überzeugungen.
Sogar die Interpretation einer rein numerischen Ergebnisdarstellung wird in die Richtung der früheren Überzeugung des Probanden „gedeutelt“. Ebenso werden aussagenlogisch gültige Urteile durch die früheren Überzeugungen von Personen verzerrt. Gültige Syllogismen mit der Schlussfolgerung „deshalb sollte Marihuana legal sein“ sind für Liberale leichter als richtig zu beurteilen – dagegen für Konservative schwieriger; wohingegen gültige Syllogismen mit der Schlussfolgerung „deshalb hat niemand das Recht, das Leben eines Fötus zu beenden“ für Liberale schwerer und für Konservative leichter als richtig zu beurteilen sind. Ich höre an dieser Stelle aus Platzgründen auf, Beispiele zu erwähnen, obwohl ich noch nicht einmal damit begonnen habe, die vielen verschiedenen Forschungsansätze aufzuzählen, die Psychologen zur Untersuchung des Myside-Bias verwendet haben. Wie ich in meinem neuen Buch „The Bias That Divides Us“ (Die Voreingenommenheit, die uns trennt) darlege, zeigt sich die Myside-Voreingenommenheit nicht nur bei laborgestützten Forschungen. Stattdessen charakterisiert sie unser Denken im realen Leben.
Anfang Mai 2020 fanden in mehreren Hauptstädten der US-Bundesstaaten Demonstrationen statt, um gegen die als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie verordnete Politik des „Stay-at-home“ zu protestieren. Die negativen Kommentare an diesen Demonstrationen waren stark parteipolitisch geprägt – die eine (linke) Seite beklagte die gesellschaftlichen Gesundheitsrisiken der Demonstrationen, während die andere (rechte) Seite das Anliegen der Demonstranten unterstützte. Nur wenige Wochen später kehrten sich diese parteipolitischen Haltungen mit Blick auf große öffentliche Versammlungen vollständig um, als aufgrund einer Reihe anderer Gründe neue Massendemonstrationen stattfanden.
Frage Nr. 3 – Resultate aus der realen Welt
Sie haben soeben darauf hingewiesen, dass Sie mit dem Myside-Bias keineswegs ein bloßes Laborphänomen zur Diskussion stellen, sondern etwas Reales, das unser Denken im wirklichen Leben beeinflusst. In Ihrem letzten Buch „The Rationality Quotient“ haben Sie diesen Aspekt mehrfach erwähnt. Zum Beispiel hatten Sie eine umfangreiche Liste von „Ergebnissen aus der realen Welt“ zusammengestellt, die von Verzerrungen herrühren. Wie wird es in Ihrem neuen Buch aussehen? Inwieweit werden Sie „aus dem Labor heraustreten“ und die Ergebnisse der Myside-Verzerrungen in der realen Welt analysieren?
Keith E. Stanovich #3 – zweideutige Situationen führen zu einer Verzerrung
Ich benutze Beispiele aus einer Vielzahl von Bereichen, aber der fruchtbarste Bereich ist das, was wir allgemein als Politik, Regierungspolitik und Ideologie bezeichnen könnten. Ich beschreibe zum Beispiel die Debatten über die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten. Es gibt viele Menschen, die glauben, dass die Todesstrafe Verbrechen abschreckt, und andere, die glauben, dass sie es nicht tut. Es gibt Menschen, die glauben, dass viele unschuldige Menschen für Verbrechen verurteilt werden, und andere Menschen, die glauben, dass nur wenige unschuldige Personen für nicht verübte Straftaten verurteilt werden. Beachten Sie jedoch, dass wenn die Häufigkeit dieser Beurteilungen in einer 2 x 2-Matrix dargestellt werden, zwei der Matrix-Zellen „überbelegt“ und zwei „unterbelegt“ sind. Viele Menschen verbinden ihre Überzeugung, dass die Todesstrafe Verbrechen abschreckt, mit dem Glauben, dass nicht viele Unschuldige für Verbrechen verurteilt werden. Demgegenüber zeigen viele Menschen die Überzeugung, dass die Todesstrafe Verbrechen nicht abschreckt verbunden mit der Annahme, dass viele Unschuldige für Verbrechen verurteilt werden. (Erläuterung des Übersetzers: Offenbar „bündeln“ die Befragten ihre Überzeugungen so, dass diese jeweils die positive Bewertung der Todesstrafe bzw. deren negative Bewertung stützen). Fast niemand vertritt jedoch die beiden übrigen Überzeugungs-Kombinationen, die beide äußerst plausibel sind: die Beurteilung, dass die Todesstrafe Verbrechen abschreckt, kombiniert mit der Annahme, dass viele Menschen unschuldig verurteilt werden; oder der kombinierte Glaube, dass die Todesstrafe Verbrechen nicht abschreckt, zusammen mit dem Standpunkt, dass wenige Menschen unschuldig verurteilt werden.
Dies deutet darauf hin, dass die Bewertungen darauf zurückgehen, dass die einzelnen Einschätzungen nicht unabhängig voneinander gebildet wurden. Stattdessen war die Bewertung der beiden unterschiedlichen Aussagen – per Myside-Bias – jeweils mit der positiven bzw. der negativen Bewertung der Todesstrafe verbunden.
Frage Nr. 4 – Prävention der Myside-Verzerrung
Sie haben Zweideutigkeiten, die Unklarheit der Situationen und die Komplexität der Fakten als einen Kontext beschrieben, der eine voreingenommene Entscheidungsfindung verursacht. Wie analysieren Sie dies in Ihrem Buch? Behaupten Sie, dass kluge Politiker die unklare Situation bewusst nutzen, um Entscheidungen durchzusetzen, die sonst schwer zu legitimieren wären? Oder werden die Entscheidungsträger selbst unbewusst Opfer ihrer eigenen Voreingenommenheit? Im ersten Fall würden Politiker bewusst die Myside-Voreingenommenheit ihrer Mitbürger ausnutzen, um ihre Ziele und ihre einseitigen Interessen zu verwirklichen. Im zweiten Fall würden Politiker selbst Opfer der Voreingenommenheit werden – anstatt rationale Entscheidungen zu treffen, würden sie unbewusst Entscheidungen in einem psychoanalytischen Sinn „rationalisieren“. Beide Modelle für das Auftreten der Myside-Voreingenommenheit im Zusammenhang mit wichtigen politischen Entscheidungen wären schlecht: Was können wir grundsätzlich tun, um diese Art der Voreingenommenheit zu verhindern?
Keith E. Stanovich #4 – sechs Empfehlungen
Die Antwort ist, dass Ihre beiden Modelle der Funktionsweise der Myside-Voreingenommenheit in der Politik zutreffen. Beide kommen in der politischen Realität vor. Sicherlich sind die Politiker selbst Opfer ihrer eigenen Voreingenommenheit, aber die Parteipolitik selbst ermutigt die politischen Entscheidungsträger, die Myside-Parteinahme als Waffe einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen – Ziele, die manchmal im Gegensatz zu den Wünschen ihrer eigenen Parteimitglieder stehen. Lassen Sie mich dies in einen Zusammenhang bringen, indem ich zunächst einige der Abschnitte im letzten Kapitel meines Buches aufliste, die sich damit befassen, was wir tun können, um die Auswirkungen der Myside-Voreingenommenheit zu mildern. In diesem Kapitel diskutiere ich:
- wie wir den Myside-Bias vermeiden können, indem wir erkennen, dass wir uns von unseren Gegnern nicht deshalb unterscheiden, weil wir bestimmte Fakten kennen, die diesen unbekannt sind, sondern unsere politischen Gegner widersprechen uns stattdessen wegen legitimer Wertunterschiede
- dass wir als Individuen unseren Myside-Bias verringern können, indem wir erkennen, dass wir selbst widersprüchliche Werte vertreten
- die Erkenntnis, dass der Tatbestand der ständigen Einflussnahme durch soziale Medien eine „Adipositas-Epidemie des Denkens“ verursacht
- dass wir das Ausmaß unserer Myside-Voreingenommenheit verringern, indem wir die unbequeme Tatsache anerkennen, dass wir den ideologischen Überzeugungen, die unsere Voreingenommenheit antreiben, nicht ausreichend auf den Grund gegangen sind. Und dass Basis-Überzeugungen – ohne dass wir uns dies bewusst machen – durch unsere genetischen Dispositionen sowie aus unserem sozialen Milieu bewirkt wurden
- dass wir uns bewusst machen sollten, dass Parteienbindungen voreingenommener machen, als dies zu unseren politischen Themen passt. Vermeiden Sie Myside-Voreingenommenheit, indem Sie Ihre individuellen Überzeugungen abkoppeln, indem Sie sich von den Großpositionen politischer Organisationen, wie z.B. politischer Parteien freimachen, mit denen Sie sich vielleicht identifizieren. Das heißt, vermeiden Sie Überzeugungen zu aktivieren, die zu einer Myside-Voreingenommenheit führen, indem Sie sich der von politischen Parteien praktizierten prinzipienlosen Bündelung von Themen widersetzen
- dass wir uns bei politischen Fragen nicht mit einer spezifischen Gruppe identifizieren und nicht deren Positionen übernehmen sollten, weil dies offenbar unseren Myside-Bias vergrößern würde
Nr. 2 und Nr. 5 oben beziehen sich insbesondere auf Ihren Punkt, dass „Politiker die Myside-Voreingenommenheit ihrer Mitbürger absichtlich ausnutzen, um ihre Ziele und ihre einseitigen Interessen zu erreichen“. Insbesondere trifft dies auf Punkt 5 zu.
Voreingenommenheit wird durch Überzeugungen befeuert, die wir für uns angenommen haben – aber viele dieser Überzeugungen werden durch Parteianhängerschaft angetrieben. Einige der Myside-Verhaltensweisen, die durch diese Anhängerschaft entstehen, sind in gewissem Sinne „unnötig“. Mit unnötig meine ich, dass wir in vielen Fragen keine auf Glaubenssätzen beruhenden Überzeugungen annehmen würden, wenn uns im jeweiligen Zusammenhang der Standpunkt der uns nahestehenden Partei unbekannt gewesen wäre. Die sich stattdessen zeigende überzogene „Hyper“-Parteilichkeit verwandelt überprüfbare bisherige Überzeugungen, die wir mit schwacher Zustimmung vertreten hätten, in zu verteidigende Wertpositionen, an die wir mit der Stärke eines Glaubenssatzes festhalten. Durch unabhängiges Nachdenken wären wir häufig niemals zu dieser Überzeugung gelangt.
Untersuchungen haben gezeigt, dass die meisten Menschen wenig ideologisch veranlagt sind. Sie denken nicht viel über allgemeine politische Prinzipien nach und sie nehmen zu bestimmten Themen nur dann Stellung, wenn diese sie persönlich betreffen. Von Thema zu Thema neigen ihre Positionen dazu, inkonsistent zu sein, statt von einer kohärenten politischen Weltanschauung zusammengehalten zu werden, die sie deutlich artikulieren können. Studien tendieren zu der Erkenntnis, dass lediglich Personen Positionen zu bestimmten Themen auf eine Art und Weise vertreten können, die wie eine Ideologie aussieht, die tief in Politik involviert und/oder extrem hochgebildet sind und sich ständig in hochkarätige Medienquellen vertiefen.
Tatsächlich weisen beide Seiten in unseren parteilichen Debatten – oft überzeugend – darauf hin, dass die Positionen auf der Gegenseite auf inkohärente Weise zusammengestellt wurden, und diese Taktik wird oft mit Erfolg eingesetzt. In der Abtreibungsdebatte ist es üblich, dass Selbstbestimmungsrechts-Befürworter auf die Inkonsistenz der Abtreibungsgegner hinweisen, die das Leben von Ungeborenen, nicht aber das Leben von Strafgefangenen im Todestrakt erhalten wollen. Dieses Argument wird oft wirkungsvoll und überzeugend vorgetragen. Entsprechendes gilt jedoch auch für das umgekehrte Argument der Abtreibungsgegner, welche auf die Inkonsequenz von Selbstbestimmungsrechts-Befürwortern hinweisen, die gegen die Todesstrafe sind. Letztere scheinen den Tod des Ungeborenen zu akzeptieren (zunehmend – zumindest in der Demokratischen Partei – bis zum Zeitpunkt der Geburt), nicht aber den Tod von Kriminellen. Selbstbestimmungsrechts-Befürworter kontern oft mit dem Argument, dass unschuldige Menschen hingerichtet worden seien, woraufhin ihre Gegner darauf hinweisen, dass alle Ungeborenen ebenfalls unschuldig seien. Sowohl die Selbstbestimmungsrechts-Befürworter als auch Abtreibungsgegner weisen jeweils auf die Inkonsequenz ihrer Gegner hin und scheinen überzeugende Argumente zu haben. Passend wäre in dieser Situation die Empfehlung, dass beide Seiten ihre Meinung zumindest in einem dieser Punkte, wenn nicht sogar zu beiden, mäßigen sollten. Beide Gruppen vertreten in diesen beiden Fragen inkonsistente Standpunkte, weil ihre jeweiligen Parteien entsprechende nicht kompatible Grundannahmen gebündelt haben – die Demokraten haben Selbstbestimmungsrechts-Befürwortung mit Anti-Todesstrafe und die Republikaner haben Abtreibungs-Gegnerschaft mit Pro-Todesstrafe gebündelt. Diese beiden Themenfelder sind vom Prinzip her weitaus unabhängiger, als dies aufgrund der engen Bündelung dieser beiden Themen durch Partei-Vordenker zu erwarten gewesen wäre.
Es gibt weitere Bündelungen, die in der gegenwärtigen Politik zu beobachten sind, die äußerst befremdlich erscheinen. Befürworter von Tierrechten möchten den kollektiven „Schutzschirm“ der moralischen Besorgnis auf diejenigen ausdehnen, die weniger empfindungsfähig und biologisch weniger komplex sind als Menschen. Es scheint also so, als ob Tierrechtsaktivisten grundsätzlich Befürworter des Lebens wären.
Ein Fötus ist weniger empfindungsfähig und biologisch weniger komplex und scheint damit in der vordersten Reihe der Organismen zu stehen, die den erweiterten moralischen Schutz benötigen, wie dieser im Zentrum der Tierrechtsposition steht. Wenn wir jedoch die Verteilung politischer Einstellungen empirisch untersuchen, stellen wir fest, dass es stattdessen, ein wenig erschreckend, eine Korrelation in entgegengesetzte Richtung gibt: Menschen, die sich für den Schutz von Tieren aussprechen, die viel weniger komplex und empfindungsfähiger sind als Menschen, unterstützen mit größerer Wahrscheinlichkeit die Abtreibung Ungeborener. Einige Veganerinnen und Veganer zum Beispiel, die mit dem Argument keinen Honig essen, dass dessen Konsum den moralisch definierten Rechten der Bienen schaden könnte, entpuppen sich als lautstarke Befürworterinnen und Befürworter einer uneingeschränkten Abtreibung.
Wir können darüber streiten, ob die Korrelation hier negativ sein sollte oder nicht. Es ist allerdings schwer, sich ein kohärentes moralisches Prinzip auszudenken, das die beiden Haltungen (gleichzeitige Unterstützung des Veganismus und der Abtreibung) in einer geglückten Weise verbindet. Um es klar zu sagen: Ich sage nicht, dass irgendeine der Positionen zu diesen einzelnen Themen (Tierrechte, Veganismus, Abtreibung) falsch oder irrational ist. Ich setze mich lediglich für den viel schwächeren Hinweis ein, dass darauf geachtet werden sollte, wie die Kollisionen von moralischen Urteilen bzw. die unerwartete Korrelation zwischen den Positionen eher darauf zurückzuführen zu sein scheint, dass wir die Parteistrategie akzeptiert haben, diese Themen zu bündeln. Diese Meinungskollisionen sind offenbar nicht das Ergebnis unserer unabhängigen Überlegungen zu diesen Themen.
Dass die Bündelung von Themenpositionen aus Gründen der politischen Zweckmäßigkeit erfolgt, wird durch die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Veränderungen der politischen Positionen, die innerhalb der Parteien stattfinden können, nachdrücklich bestätigt. Es dauerte nur wenige Jahre, bis die Republikaner von einer Partei, die während der Amtszeit von Präsident Obama gegenüber Haushaltsdefiziten kritisch eingestellt war, zu einer Partei avancierte, die unter der Trump-Administration massive Haushaltsdefizite in Kauf nimmt. Es dauerte nicht viel länger, bis die Demokraten von einer Partei, die sich gegen illegale Einwanderung wendete, weil sie die Löhne gering qualifizierter Arbeitskräfte drückt, zu einer Partei der Zuflucht wurde, zum Fürsprecher jeder Person, die die Grenze ohne Ausweispapiere überquert. Diese Verschiebungen werden durch Veränderungen in der Wahlstrategie verursacht, nicht durch die Umsetzung politischer Prinzipien.
Die Einsicht in diesen Tatbestand kann genutzt werden, um unseren eigenen Myside-Bias zu dämpfen. Bedenken Sie, dass Ihre politische Partei, statt sich an einer abstrakten Ideologie zu orientieren, wie eine soziale Identität funktioniert, und dass sie Themen bündelt, um ihren eigenen Interessen statt Ihren Bedürfnissen zu dienen.
Frage Nr. 5 – Wie können globale Probleme gelöst werden?
Zunächst möchte ich versuchen, Ihre Analyse kurz zu rekapitulieren:
Aus Ihrer Sicht könnten wir als Akteure gegen unsere Myside-Vorurteile ankämpfen,
- wenn wir erkennen, dass wir bei Auseinandersetzungen mit Gegnern nicht um Fakten ringen, sondern stattdessen um legitime Wertunterschiede und auf diese Weise letztlich um gegensätzliche legitime Interessen
- indem wir anerkennen, dass wir als Akteure oftmals versuchen, Werte und Interessen zu erfüllen, die miteinander unvereinbar sind
- durch die Erkenntnis, dass unser Urteilsvermögen durch eine Epidemie des Einflusses der sozialen Medien eingeschränkt ist
- dass wir anerkennen, dass die Überzeugungen, die unsere Myside-Voreingenommenheit vorantreiben, im Wesentlichen von zwei Grundlagen beeinflusst werden: Durch die biologische Evolution – durch die genetischen Voraussetzungen unseres Denkens – und durch unsere soziale Evolution und Sozialisation
- dass wir anerkennen, dass wir einem parteilichen Tribalismus – einem Stammesdenken – ausgesetzt sind, der uns dazu beeinflusst, willkürlich gebündelte Werthaltungen und Meinungen zu übernehmen
- durch die Anerkennung der Einseitigkeit der Identitätspolitik.
Habe ich Ihre Analyse korrekt zusammengefasst?
Die menschliche Spezies ist zunehmend durch ihre Unfähigkeit, rationale Entscheidungen zu treffen, bedroht. Wie Sie zeigen, rührt dieses Problem oft von Wertorientierungen, Wertekonflikten und manipulierten Wertehaltungen her.
Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund unsere Chancen für die Zukunft, Probleme wie die aktuelle Pandemie, den Klimawandel und die dadurch verursachten zunehmenden Umweltkatastrophen und so weiter zu lösen? Werden die Menschen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten lernen, mit Wertekonflikten umzugehen? Gibt es Mittel und Wege, das notwendige rationale und reflektierende Denken von Einzelpersonen und Entscheidungsträgern in Gruppen zu stärken – effektiv und rechtzeitig?
Oder sind wir, wie der Moralpsychologe Jonathan Haidt es bildlich umschrieben hat, „emotionale Hunde“, deren rationale Reflexionen nur eine untergeordnete Rolle spielen, indem sie uns mehr oder weniger wirkungslos mit dem „rationalen Schwanz“ im Hinblick auf globale Probleme wedeln lassen?
Keith E. Stanovich #5 – Probleme werden nicht durch mehr Wissen gelöst – sondern durch die Einsicht in die eigenen Grundüberzeugungen
Sie haben meine Empfehlungen in Kapitel 6 richtig zusammengefasst. – Jonathan Haidt hat sein duales Prozessmodell, bei dem rationale Reflexionen den Emotionen des Systems 1 (Erläuterung des Übersetzers: „System 1“ im Sinne der Terminologie in Kahnemans Besteller: „Schnelles Denken – langsames Denken“: automatisches, schnelles Denken) erheblich untergeordnet sind, im Kontext des moralischen Denkens entwickelt. Sein Modell lässt sich recht gut auf die moralische Argumentation anwenden, aber rationale Reflexionen können eine umfassendere Rolle bei der Eindämmung einiger der anderen Verzerrungen, die in der heuristics & biases-Literatur eine Rolle spielen (framing biases, base rate neglect, anchoring biases, vividness biases etc.). Die schlechte Nachricht in meinem Buch ist jedoch, dass die Myside-Verzerrung tatsächlich dem Fall der moralischen Argumentation mehr ähnelt als anderen Verzerrungen in der Literatur, da sie durch Haidts Modell ziemlich gut beschrieben wird.
Der Myside-Bias wird durch die Stärke der Überzeugungen zu bestimmten Themen befeuert. Diese Überzeugungen haben jedoch als wesentliche Ursache angeborene psychische Neigungen und soziales Lernen während des gesamten Lebens einer Person – beides steht nicht unter der Kontrolle des Einzelnen. Bei den Überzeugungen handelt es sich um Meme, die die Person zumeist nicht reflexiv erworben hat, sondern um Ideen im sozialen Milieu, die zum Temperament des Einzelnen passen.
Die einzige gute Nachricht hier ist Empfehlung Nr. 4: Wenn Menschen erkennen, dass die Überzeugungen, die sie anstellen, weniger bewusst gewählt sind, als sie dachten, halten sie diese Überzeugungen vielleicht mit geringerer Intensität. Wenn die Intensität der Überzeugungen verringert wird, kann die Voreingenommenheit verringert werden.
Was schließlich Ihre Fragestellung zur aktuellen Pandemie und zum Klimawandel betrifft, möchte ich noch einmal auf Empfehlung Nr. 2 hinweisen, und Empfehlung Nr. 5 liefert hier die Antwort. Beide Themen sind auf der Basis des Parteien-Antagonismus politisiert worden, wodurch unsere Fähigkeit beeinträchtigt wird, beide Probleme anzugehen. Was die Pandemie in den Vereinigten Staaten anbelangt, so fanden, wie ich bereits erwähnt habe, Anfang Mai 2020 Demonstrationen in mehreren Hauptstädten der US-Bundesstaaten statt, um gegen die vorgeschriebene Politik des stay-at-home zu protestieren. Die meisten Mainstream-Medien verurteilten diese Demonstrationen als eine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit. Als jedoch innerhalb weniger Tage nach dem ersten Aufmarsch neue Demonstrationen zu einem völlig anderen politischen Thema stattfanden, lobten die Massenmedien die neuen Demonstrationen, obwohl sie eine ebenso große Bedrohung für die öffentliche Gesundheit darstellten. Dies hatte zur Folge, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Massenmedien abnahm. Der Myside-Bias hat die Fähigkeit beeinträchtigt, der Öffentlichkeit Informationen zu vermitteln, denen Vertrauen geschenkt werden kann. Und natürlich tun unsere Regierungen und Politiker das Gleiche – sie verurteilen und billigen inkonsequent äquivalente Aktionen auf der Grundlage der an den Aktionen beteiligten Interessengruppen.
Die entscheidende Strategie besteht darin, so etwas wie Maßnahmen gegen die Pandemie erst gar nicht zu politisieren. Etwas Ähnliches stellt sich im Fall des Klimawandels dar. Als Al Gore in den Vereinigten Staaten begann, das Thema Klimawandel gegenüber einer umfassenden Öffentlichkeit zu propagieren, dachte ich, das sei eine gute Sache, denn jetzt würde die Öffentlichkeit besser informiert werden. Aber im Laufe der Jahre sah ich mit Schrecken, dass der Umstand, dass Al Gore zum „Frontmann“ für die Belange des Klimawandels geworden war, sich zu einer negativen Sache wandelte. Die Tatsache, dass er ein bekannter Politiker war, führte dazu, dass das Thema nach „stammespolitischen“ / parteilichen Gesichtspunkten politisiert wurde. Mir ist jetzt klar, dass es viel besser gewesen wäre, die Öffentlichkeit durch politisch neutralere Gesprächspartner langsamer zu informieren, auch wenn dadurch die Verbreitung von Wissen über den Klimawandel verlangsamt worden wäre. Der Tempoverlust bei der Verbreitung wäre mehr als wettgemacht worden, wenn wir die Informationen in einer Weise hätten verbreiten können, die nicht zur Parteinahme einlädt.
Und schließlich möchte ich dazu anregen, sich auf die obige Empfehlung Nr. 2 zu besinnen. Vermeiden Sie, was der Politologe Arthur Lupia als den „Fehler der Umwandlung von Wertunterschieden in Unwissenheit“ bezeichnet – d.h., einen Streit über legitime Unterschiede in der Gewichtung der für ein Thema relevanten Werte fälschlicherweise für einen Streit um Fakten zu halten, bei dem Ihr Gegner „die bloßen Fakten nicht kennt“.
Der Klimawandel liefert ein Beispiel: Die Verringerung der Umweltverschmutzung und die Eindämmung der globalen Erwärmung erfordern oft Maßnahmen, die als Nebeneffekt das Wirtschaftswachstum bremsen. Die zukünftigen Steuerzahlungen und regulatorischen Auflagen, die notwendig sind, um die Umweltverschmutzung und die Erderwärmung deutlich zu reduzieren, gehen oft überproportional zu Lasten der Armen. So schränkt beispielsweise die Erhöhung der Kosten für den Betrieb eines Automobils das Autofahren ärmerer Menschen stärker ein als das der Wohlhabenden – durch die Schaffung von Stauzonen, durch höhere Parkgebühren sowie höhere Fahrzeug- und Benzinsteuern. Gleichermaßen gibt es keine Möglichkeit, die globale Erwärmung zu minimieren und gleichzeitig die Wirtschaftsleistung (und damit die derzeitigen Arbeitsplätze und allgemeinen Wohlstand) zu maximieren. Die Menschen unterscheiden sich darin, wo sie ihre „Parametereinstellungen“ für den zukünftigen Kompromiss-Ausgleich zwischen dem zukünftigen Umweltschutz und dem gegenwärtigen Wirtschaftswachstum ansiedeln. Unterschiedliche Parametereinstellungen bei Themen wie diesem sind nicht notwendigerweise auf mangelndes Wissen zurückzuführen. Sie sind das Ergebnis unterschiedlicher Werte oder unterschiedlicher Weltanschauungen.
Es wäre nicht überraschend, wenn die unterschiedlichen Werte, die Menschen verfolgen, zu einem gesellschaftlichen Kompromiss führen könnten, der in seinen Extremen keiner der beiden Gruppen gefällt. Es stellt den Höhepunkt der Myside-Voreingenommenheit dar zu denken, dass, wenn alle intelligenter, rationaler oder weiser wären, sie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausgerechnet dort platzieren würden, wo sie ihre eigenen Idealbedingungen sehen. Es gibt keine empirischen Beweise dafür, dass mehr Wissen oder Intelligenz oder Reflexivität solche Werte / -Nutzen-Diskrepanzen auflösen könnte.
Wenn Liberale sehen, dass Konservative grüne Initiativen ablehnen, werfen sie den Konservativen vor, die Auswirkungen der globalen Erwärmung auf die Zukunft nicht zu verstehen. Wenn Konservative sehen, dass Liberale teure grüne Initiativen unterstützen, werfen sie den Liberalen vor, die Gegebenheiten nicht zu verstehen, durch die ein Rückgang des Wirtschaftswachstums zu mehr Armut und wirtschaftlicher Not für die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft führt. In beiden Fällen sind dies falsche Charakterisierungen. Die meisten Konservativen interessieren sich für den Zustand der Umwelt und für die Auswirkungen der globalen Erwärmung. Die meisten Liberalen verstehen, dass wirtschaftliches Wachstum Not verhindert und Armut verringert. Oft kennen beide Gruppen die Tatsachen – sie gewichten nur den Wertkompromiss, um den es hier geht, unterschiedlich: die Vermittlung zwischen Sorge um die Auswirkungen der künftigen globalen Erwärmung auf der einen Seite mit dem Interesse an der Aufrechterhaltung eines maximalen Wirtschaftswachstums auf der anderen Seite. Je mehr wir uns bewusst werden, dass es bei einem bestimmten Thema Wertkompromisse zu berücksichtigen gibt, desto weniger verwirrt werden wir sein.
Die vielen Email-Schreiber, die sich über die Wahlergebnisse von 2016 ärgerten und mich nach der Veröffentlichung meines Buches über rationales Denken kontaktierten, sind Mitglieder einer weltweiten kognitiven Elite. Diese Gesprächspartner dachten (fälschlicherweise, wie ich in meinem neuen Buch demonstriere), dass jede Studie über das menschliche Denkens Futter für ihre Ansicht liefern würde, dass die entscheidenden Wähler sowohl in Großbritannien (Brexit) als auch in den Vereinigten Staaten (die Präsidentschaftswahlen) irrational waren. Meine Ansprechpartner schienen der Meinung zu sein, dass politische Auseinandersetzungen ausschließlich Fragen der Rationalität oder des Wissenserwerbs sind – und dass überlegenes allgemeines (oder spezifisches) Wissen automatisch Korrektheit im politischen Bereich verleiht. Sie schienen der Meinung zu sein, dass, da ich als akademischer Forscher ein Spezialist für Rationalität und Wissen bin, ich auf der Basis dieses Fachwissens über besondere Weisheit auf dem Gebiet der Politik verfügen müsste. Kurz gesagt, meine Gesprächspartner schienen den Fehler zu machen, von dem Arthur Lupia spricht: Ihren Gegnern vorzuwerfen, „die Fakten nicht zu kennen“, einfach weil Sie wollen, dass sich Ihre eigene Weltanschauung als Faktenlage durchsetzt.
Als kognitive Eliten können wir unseren Myside-Bias zähmen, indem wir erkennen, dass in vielen Fällen unsere Auffassung, dass bestimmte Fakten (die wir aufgrund des Rosinenpickens zufälligerweise kennen) unseren politischen Gegnern schockierenderweise unbekannt sind, in Wirklichkeit nur ein eigennütziges Argument darstellt. Es dient dazu, die Tatsache zu verschleiern, dass hinter dem umstrittenen Thema, über das wir sprechen, ein ungelöster Wertekonflikt steckt. Dass wir uns auf die angebliche Ignoranz unserer Gegner konzentrieren, ist eine List, um zu verschleiern, dass wir lediglich unsere eigenen Wertvorstellungen durchsetzen wollen – und nicht, dass es bei dem Thema um einen Streit geht, der durch mehr Wissen gelöst werden kann.
Nr. 6 – SCHLUSSFOLGERUNG
Professor Stanovich – vielen Dank für Ihre Geduld und die ausführliche Aufklärung!
Übersetzung: Heinz W. Droste, 19.08.2020
Links
Keith E. Stanovich (September 28, 2017): „Were Trump Voters Irrational?“ – Quillette
Key Papers of Keith E. Stanovich – Download page
Bio – Weblog Page
Further readings
Rational Thinking
Stanovich, K. E. (2004). The robot’s rebellion: Finding meaning in the age of Darwin. Chicago: University of Chicago Press.
Stanovich, K. E. (2009). What intelligence tests miss: The psychology of rational thought. New Haven, CT: Yale University Press.
Stanovich, K. E. (2010). Decision making and rationality in the modern world. New York: Oxford University Press.
Stanovich, K. E. (2011). Rationality and the reflective mind. New York: Oxford University Press.
Stanovich, K. E. (2021). The Bias That Divides Us: The Science and Politics of Myside Thinking. Cambridge, Massachusetts/London, England: The MIT Press.
Stanovich, K. E., West, R.F., Toplak, M. E. (2015). The Rationality Quotient: Toward a Test of Rational Thinking. Cambridge, Massachusetts/London, England: The MIT Press.
Moral Psychology
Greene, J. (2013). Moral Tribes: Emotion, reason, and the gap between us and them. New York: Penguin Press.
Haidt, J. (2001). The emotional dog and its rational tail: A social intuitionist approach to moral judgement. Psychological Review 108: 814-834.
Haidt, J. (2012). The righteous mind: Why good people are divided by politics and Religion. New York: Pantheon.