„Roll over Bertalanffy, tell Parsons and Luhmann the News!“
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System ist nicht gleich System!
Was ist spannender als der Mensch? Der bekannte amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut soll Studenten, die sich für die Geheimnisse des erfolgreichen und fesselnden Schreibens interessierten, erklärt haben, dass es durchaus möglich sei, selbst ein Gebirge spannend zu beschreiben. Es komme nur darauf an, dass in dem dabei entworfenen Bild auch ein Mensch zutage tritt.
In der Folge des vorliegenden Beitrags wird es nicht darum gehen, eine spannende Erörterung des Aussehens eines Bergmassivs oder einer anderen geologischen Merkwürdigkeit spannend zu umschreiben – was tatsächlich bereits ein schwierig zu meisterndes Unterfangen wäre.
Hier wird es um etwas gehen, das sich noch öder, trockener auszunehmen droht: Es geht hier um einen der abstraktesten in Wissenschaft und Technologie verwendeten Begriffe – um den Systembegriff.
Selbst die Empfehlung Vonneguts, einen Menschen in die Darstellung einer Sache einzubeziehen, droht angesichts massiver Unanschaulichkeit der betreffenden Sache unwirksam zu bleiben. Deshalb gehe ich die Herausforderung an, indem ich nicht nur einen Menschen, sondern direkt eine ganze Gruppe von Menschen in meine Schilderung einbeziehe und indem ich einen weiteren Kunstgriff nutze: Ich schreibe meinen Text in Form einer Reportage.
Preisverleihung – Ort und Anlass
Vom 22. bis 25. April 2014 fand in Wien ein internationales Treffen von Systemtheoretikern und Kybernetikern statt – das 22. European Meeting on Cybernetics and Systems Research (emcsr 2014). Veranstaltungs-Location waren Räumlichkeiten der Universität Wien – genauer: die der Kommunikationswissenschaftler auf der Währinger Straße.
Die Organisation des Events lag in Händen der Mitarbeiter des „Bertalanffy Center for the Study of Systems Science“ einem eingetragenen Verein, der sich laut Satzung als Vereinigung zur Förderung der Systemwissenschaften versteht. Die Gründer des Bertalanffy Center haben ihrem Verein zum Ziel gesetzt, die Forschung der Allgemeinen Systemtheorie im Sinne Ludwig von Bertalanffys zu fördern.
22. April 2014 – 10:00 Uhr – “General system theory is rock ’n’ roll!”
Zum Auftakt der mehrtägigen Symposien erfolgen zunächst Grußworte – Vertreter von Organisationen, die sich der Systemforschung verbunden fühlen und das diesjährige internationale Treffen unterstützen, stellen sich vor und grüßen wortreich die im Hörsaal anwesenden Teilnehmer der Veranstaltungswoche.
Die Stimmung ist gut, die Beteiligten sind erwartungsvoll gespannt auf die anstehenden, hoffentlich interessanten Beiträge und Diskussionen der folgenden Tage. Eines der letzten Grußworte wird enthusiastisch mit einem “General system theory is rock ’n’ roll!” abgeschlossen – ein erster, ein emotionaler Höhepunkt des Tages.
22. April 2014 – 11:00 Uhr – Feierstunde: „Der Preisträger macht keine Gefangenen.“
An die Grußwort-Zeremonie schließt sich eine Feierstunde an. Anlass: Das Bertalanffy Center verleiht zum zweiten Mal den “Bertalanffy Award in Complexity Thinking”. Der erste Preisträger war zwei Jahre zuvor anlässlich des 21. European Meeting on Cybernetics and Systems Research-Events der französische Philosoph Edgar Morin.
Am heutigen denkwürdigen 22. April 2014 ist es der 94-jährige Argentinier Mario Bunge – bis vor wenigen Jahren Frothingham Professor of Logics and Metaphysics an der McGill University in Montreal, Kanada – der als Zweiter diesen Preis entgegennehmen wird:
Er ist würdiger Träger des heute zu vergebenden Preises, der richtungsweisendes komplexes Denken im Umfeld des Systemismus auszeichnet. Denn Mario Bunge hat als international renommierter Wissenschaftsphilosoph wie kein zweiter die Verwendung des Systemkonzeptes in den empirischen Wissenschaften analysiert, bewertet und dadurch Standards gesetzt. Diese Standards haben vielerlei Konsequenzen für die Beurteilung des aktuellen methodischen Vorgehens in einem breiten Spektrum an Forschungsfeldern – etwa der Quantenphysik, Chemie, Biologie, Psychologie, Sozialwissenschaften oder der Medizin … doch nun weiter zum Ablauf der Veranstaltung:
Die Laudatio hält der deutsche Naturphilosoph und Hochschullehrer Rainer E. Zimmermann. In seiner Rede würdigt der Schelling-Rezensent den am heutigen Tag als komplexen Denker auszuzeichnenden Mario Bunge als „philosophischen Freiheitskämpfer“, der Licht auf die fundamentalen Fragen wissenschaftlichen Wissens wirft. Zimmermann hebt insbesondere die Kompromisslosigkeit hervor, die dieser an den Tag legt, wenn es darum geht, seine Argumente gegen Positionen durchzusetzen, die seiner Meinung nach in die Irre führen: Zimmermann zitiert einen Bunge-Kenner: „He takes no prisoners!“ –
Spätestens an diesem Punkt der Laudatio muss jeder, der sich ein wenig mit Bunges Werk auseinandergesetzt hat, den Atem anhalten – geht es doch um einen Preis, der ausgerechnet nach dem österreichischen Biologen von Bertalanffy benannt ist. Dies ist ein Augenblick allerhöchster fachlicher Spannung.
Doch Zimmermann umgeht deren Auflösung, indem er den zum Greifen nahen Konflikt nicht anspricht, sondern stattdessen beschwichtigend betont, wie erfrischend er es findet, mit Mario Bunge heute einen Philosophen zu treffen, der „richtig“ zu diskutieren versteht.
Die Leser, die kein besonderes Interesse an wissenschaftstheoretischen Fragen haben, werden sich nun fragen: Wieso den Atem anhalten, welche Spannung? Es handelt sich doch hier – wie bei Preisverleihungen üblich – um eine freundliche Rede, in der es vor allem um höfliche, wohlmeinende Worte und eine feierliche Würdigung der langjährigen Verdienste eines Preisträgers geht.
Halten wir zur Klärung inne, verabschieden wir uns für einen Gedankengang aus dem Hörsaal in Wien und von der Veranstaltung an diesem frühlingshaft-freundlichen Dienstagmorgen im April, um das angedeutete spannende Element genauer zu betrachten. – Das ist angemessen, denn wie wir etwa aus der psychotherapeutschen Praxis allzu gut wissen: „Störungen und deren Auflösung haben Vorrang“.
Exkurs: Systemismus und Holismus schließen einander aus.
Wir nutzen die “Reportage-Auszeit”, um in Mario Bunges Werk nachzuschlagen – und zwar suchen wir nach seiner Auseinandersetzung mit dem System-Begriff. Hier begegnen uns unmittelbar Hinweise auf das spannende Element des Morgens:
Bunge kennt Ludwig von Bertalanffys Werke offensichtlich recht genau und schätzt dessen persönliche Rolle als Mitbegründer der General Systems Research-Bewegung. – Kurze Rückschau: Im Jahre 1954 gehörte Bertalanffy in Stanford federführend zu den Gründern der Society for General Systems Research. Einer der Co-Gründer war übrigens der bekannte Mathematiker, Biologe und Musiker Anatol Rapoport.
Darüber hinaus verweist Bunge in seinem Werk an verschiedenen Stellen auf von Bertalanffys bekannten systemtheoretischen Grundsatzartikel aus dem Jahr 1950: An Outline of General System Theory.
Und genau hier kommen wir auf den gesuchten, konfliktgeladenen Punkt. Denn Mario Bunge übt Kritik an Bertalanffy Gedankengängen. Ganz deutlich schreibt er, dass dieser einen Systembegriff entwickelt habe, der das wissenschaftliche Konzept des Systemismus mit einem “Holismus” verwechselt. Lesen wir weiter, wird deutlich, dass aus Bunges Sicht hinter diesen beiden Konzepten zwei unvereinbare Ansätze stecken, auch wenn beide Begriffe vom Laien-Publikum häufig synonym verwendet werden.
Holismus: Tatsächlich irreführend und tödlich?
Worauf zielt Mario Bunge mit seiner Kritik konkret?
Mario Bunges Argument kommt – wie nicht anders zu erwarten – aus wissenschaftsphilosophischer Richtung.
Versuchen wir zunächst einzuschätzen, wie schwerwiegend eine solche Argumentation sein kann – also: Wie ernstzunehmend die darin liegende Kritik ist. Welche Relevanz hat eine philosophisch geführte Kritik – welche Konsequenzen ist sie zu erzwingen in der Lage?
Anders gefragt: Philosophische Kritik, ist das etwas, vor dem sich ein Autor wie von Bertalanffy fürchten muss?
Auf den ersten Blick könnte uns solche Kritik als eher irrelevant erscheinen und die Idee, Systemismus mit Holismus zu übersetzen, als durchaus akzeptabler Ansatz.
Denn: Wenn wir heute überhaupt etwas mit dem Begriff anfangen können, dann ist für uns als durchschnittliche Mitglieder der modernen Mediengesellschaft die Domäne der Philosophie – sollte sie überhaupt einmal in den Blickpunkt geraten – so etwas wie ein netter Zeitvertreib ohne Belang für unser tägliches Handeln, unsere Arbeit, unser Leben oder gar unser Schicksal.
Wo kommen heute philosophische Dispute überhaupt in das Licht der Öffentlichkeit?
Die geschieht durchaus. Wenn in überregionalen Zeitungen – etwa in Wochenzeitungen wie in der in Hamburg erscheinenden „Zeit“ zur Sommer-Urlaubszeit Artikel erscheinen, die sich bemühen, „aktuelle philosophische Dispute“ ans helle Tageslicht zu bringen. Das Ressort, das sich hierfür typischerweise als Plattform bereithält, ist das sogenannte „Feuilleton” (franz.: „Blättchen“) – ein journalistischer Darstellungszweig, der laut Kommunikations-Wissenschaftlerin Claudia Mast „in betont persönlicher Weise die Kleinigkeiten und Nebensächlichkeiten des Lebens betrachtet und versucht, ihnen eine menschlich bewegende, erbauende Seite abzugewinnen“.
Tatsächlich werden Philosophen in diesem Medienumfeld als Intellektuelle präsentiert, die es als Text-produzierende Individuen vermögen, ihre Weltsicht mit einer ebenso persönlichen wie “erbaulichen” Note zu verbinden. Am erfolgreichsten werden dabei philosophische Autoren vermarktet, die es schaffen, ihre exotisch anmutende Weltsicht so einfach zu vermitteln, dass diese für Feuilleton-Leser ohne anstrengende Eigen-Denkleistung und ohne philosophisches „Vorwissen“ konsumierbar wird. Der Genuss sollte dabei funktionieren wie eine eingefärbte Brille, welche die Leser in mußevoller Stunde – losgelöst vom alltäglichen Hier und Jetzt – einige Augenblicke aufsetzen, um für diese Momente eine kulturell-elaborierte Weltsicht zu genießen. – Schnell kann diese Brille wieder abgesetzt werden – das alltägliche Leben unbeschwert von Denkbalast, „normal“ fortgeführt werden.
Zurück zum Systembegriff und dessen Abgrenzung zum Holismus:
Ist das Auseinanderhalten dieser beiden Begriffe lediglich eine solche feuilletonistische Launenhaftigkeit ohne Nachwirkung und ohne belastende Substanz?
Bunge würde diese Frage mit einem kategorischen Nein beantworten. Für ihn ist der Unterschied zwischen Systemismus und Holismus (der Ganzheitslehre) so wesentlich, als könnte dieser nicht nur über das Scheitern von wissenschaftlichen Theorien in der Forschungs-Praxis, sondern in Technik und Technologie gar über Leben und Tod entscheiden.
Was er dabei meint, geht in folgende Richtung:
Der Holismus beeinhaltet das Dogma, dass Systeme vor allem Ganzheiten sind und dass die darin enthaltendenen Bestandteile und Entitäten komplett durch die Gestaltung des System-Ganzen geprägt sind – dass das Ganze (gr. holos – „ganz“) die Prozesse in seinen Subsystemen von oben her (top-down) dominiert. So stark und bestimmend, dass die Vorgänge in seinem Inneren von unten her (bottom up) keine Auswirkungen auf die Ausprägung des Ganzen nehmen können, und es sich deshalb erübrigt, diese einer näheren Betrachtung zu unterziehen.
Ein paar Beispiele für typisch holistische Fehlgriffe:
- Der soziologische Systemtheoretiker Talcott Parsons – obwohl er jahrzehntelang die internationale soziologische Theoriendiskussion beherrschte – verfehlte es tragischerweise, bedingt durch seine holistischen Konzepte, solide Erklärungen oder präzise Diagnosen sozialer Systeme, Gesellschaften oder gesellschaftlicher Entwicklungen an die nachfolgenden Soziologen-Generationen weiterzugeben.
- Niklas Luhmann, ebenfalls soziologischer Systemtheoretiker, „kultivierte“ den Holismus so weit, dass er die gesellschaftliche Realität von Individuen, die miteinander sprechen, arbeiten usw. komplett aus seiner Betrachtungen ausschloss: “Nicht der Mensch kann kommunizieren, nur die Kommunikation kann kommunizieren.“ Dass soziale Systeme und Interaktionssysteme durch Individuen „gemachte“ und durch ihr Verhalten bewirkte Dinge sind, die – wenn auch oft mit Mühen – von diesen Individuen verändert – „verbessert“ – werden müssen, weil sie ansonsten schwerwiegende Probleme auslösen, ignorierte er. Für die „Wartung“ solcher Systeme – Unternehmen, Institutionen, Arbeitsgruppen, Familien, Ehen usw. – Verantwortliche wären zum Nichtstun und zum Akzeptieren ihrer Probleme verdammt, würden sie den von Luhmann vertretenen Holismus tatsächlich praktizieren.
- Ernste Gesundheitsrisiken verursacht ein solcher Holismus in der Medizin, wenn ein „Heiler“ im Rahmen seiner heilpraktischen „Behandlung“, die „Konstitution“ und Befindlichkeit seiner Patienten ausschließlich „ganzheitlich“ behandelt, wie dies von „alternativen“ Heilpraktikern häufig praktiziert wird. Er hätte kein Interesse an den einzelnen, in der Regel versteckten Mechanismen, die im Körper zum Ausbrechen von Krankheiten führen. Er könnte das Ausbrechen und ungehinderte Ausbreiten von ernsten Erkrankungen nicht verhindern.
- Entsprechend katastrophal würde ein holistisch geprägter Mechaniker im Fall eines defekten Flugzeuges wirken. Auf die Tatsache, dass im Cockpit einige Warnlichter rot blinken, würde er reagieren, indem er die entsprechenden Leuchtdioden außer Funktion setzte, statt im Detail den Ursachen nachzugehen und nach versagenden Mechanismen etwa an Steuerung und Motor zu forschen. Dadurch wäre scheinbar die äußere Ordnung hinter dem Steuerknüppel in der Pilotenkanzel wieder hergestellt. Allerdings mit dem Risiko, dass das betreffende Flugzeug unvermeintlich beim nächsten Flug in eine bedrohliche Situation kommt.
“Wenn dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, wirst du jedes Problem als Nagel betrachten.”
Aber ist Bertalanffy tatsächlich im beschriebenen Sinne Holist?
Antwort:
Zumindest ist sein bekannter Aufsatz aus dieser Perspektive geschrieben.
Sehen wir uns an, wie er in An Outline of General System Theory die Anwendbarkeit des allgemeinen Systembegriffs begründet. Bertalanffy entwickelt seinen Gedanken in mehreren Schritten. Wir folgen ihm dabei:
Bertalanffy nimmt an, dass es die Wissenschaft mit „isomorphen“ Gesetzen zu tun hat, die alle Bereiche der Welt, der Natur, der Gesellschaft usw. durchwirken.
Aus seiner Sicht sind die unterschiedlichsten Felder der Realität von gleicher Gestalt und Struktur. Er glaubt, in ganz und gar unterschiedlichen Bereichen das Wirken identischer oder isomorpher Gesetze voraussetzen zu dürfen. Er hält dies für eine wohlbekannte Tatsache in der Physik, wo sich angeblich dieselben Differenzial-Gleichungen auf das Fließen von Flüssigkeiten, Ausbreiten von Wärme und Fließen elektrischer Ströme anwenden lassen. Als entsprechend “isomorph” deutet er Phänomene wie das Wachstum von Bakterien, das Wachstum von menschlichen Bevölkerungen oder das Wachsen menschlichen Wissens.
Auf die Frage nach dem Ursprung dieses Isomorphismus gibt er drei Gründe an, die er für selbsterklärend hält:
- Als ersten Grund führte er an, dass es zwar einfach sei, eine komplizierte mathematische Formel zu bilden – etwa eine komplizierte Differential-Gleichung aufzuschreiben. Mühsam sei es aber, für diese Gleichung Lösungen zu ermitteln. Aus diesem Grunde würden lediglich eine begrenzte Anzahl einfacher Differential-Gleichungen für die Beschreibung von Natur-Phänomene genutzt. Weil auf diese Weise in vielen Feldern der Realität immer die gleichen Formeln verwendet würden, müsste geschlussfolgert werden, dass diese verschiedenen Realitätsbereiche ähnlich strukturiert und entsprechenden Gesetzen unterworfen sind. Entsprechendes trifft seiner Meinung nach auf wissenschaftliche Gesetze zu, die nicht mathematisch formalisiert, sondern in Alltagssprache formuliert wären: Die Anzahl unserer verfügbaren intellektuellen Schemata sei zu begrenzt, als dass wir anders könnten, als diese immer und immer wieder auf Naturphänomene anzuwenden.
Dieses Argument lässt mich an die Redewendung denken, die Mark Twain zugesprochen wird: “Wenn Dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, wirst Du jedes Problem als Nagel betrachten.” So wie beim Düsseldorfer „Nagelkünstler“ Uecker jedes Kunstobjekt mit durchgängigen Nagelflächen belegt und dadurch „strukturiert“ erscheint, wären alle Phänomene der Wissenschaft durch die immer gleichen Denkstrukturen geprägt.
Bringen wir Bertalanffys Begründung auf den Punkt:
Die Denkformen, die zur Welterfassung zur Verfügung stehen, sind so begrenzt, dass Wissenschaftler nur das erkennen, das sie im Verlauf ihrer Forschung in die Darstellung der Tatbestände von „oben“ her aus Denker-Perspektive hineingesteckt haben. Die Realität kann sich diesem Vorgang gemäß Bertalanffy nicht widersetzen oder widersprechen. – Dem Leser wird es nicht schwerfallen, in dieser Begründung eine Variante des oben beschriebenen holistische Denkens zu erkennen.
- Mit dem zweiten Argument versucht von Bertalanffy, die vorhergehende erste Begründung abzusichern. Das macht er so: Er gibt zu, dass die beschriebenen mathematischen Formeln und Denkschemata eigentlich nicht hilfreich sein können, wären sie lediglich fiktiv. Hilfreich könnten sie offenbar nur dann sein, wenn sichergestellt wäre, dass Mathematik und Denken in ihren wesentlichen Strukturen grundsätzlich mit den Dingen der Welt übereinstimmten. Und so in etwa formuliert Bertalanffy: Gesetze und Schemata wären nicht hilfreich, wenn die Welt – zum Beispiel die Gesamtheit der beobachtbaren Ereignisse – nicht so ausgestaltet wären, dass sie von vornherein dazu passten. Er meint, es wäre zwar möglich, sich eine chaotische Welt vorzustellen, eine Welt, die zu kompliziert wäre, um durch die relativ einfachen Schemata erfasst zu werden, die unser begrenzter Intellekt nutzt.Bertalanffy beruhigt die Leser: Glücklicherweise sei die „wirkliche Welt“ nicht von dieser Art, sei durchgängig “denkkompatibel” und erlaube uns die problemlose Anwendung unserer intellektuellen Konstruktionen. Er behauptet – um es etwas anders auszudrücken -, dass die Welt entsprechend unseres Denkens vorgeprägt ist und dass es deshalb eine durchgängige strukturelle Gleichförmigkeit von Denken und Welt gibt. Für Bertalanffy ist alles – unser Denken und unsere Welt – von oben herab ganzheitlich durch ein und dasselbe Muster bestimmt.
- Mit dem dritten Grund kommt Bertalanffy auf den Systembegriff zu sprechen. Er nutzt diesen, um diesmal sein zweites Argument abzustützen. Er nimmt an, dass dieser dritte Grund für den Isomorphismus der Naturgesetze der wichtigste seiner Erklärungsversuche ist. Er bestände aus der Einsicht, dass in der Welt allgemeine System-Gesetze gelten, die unabhängig davon wirken, welche konkreten Eigenschaften konkrete Systeme und ihre Bestandteile jeweils haben. Er formuliert in etwa so: „Wir können auch sagen, es gibt eine durchgängige strukturelle Korrespondenz oder logische Homologie von Systemen in allen Bereichen und Feldern der Realität. Das ist der Grund, warum wir isomorphische Gesetze in verschiedenen Gegenstands-Bereichen finden.“ Für Bertalanffy gibt es eine „systemisch-logische Homologie”, die parallel das Wesen der Dinge und des menschlichen Denkens bestimmt.
Den Holismus systemisch bannen: Die semantische Theorie empirischer Wissenschaften
Wem es in seinem bisherigen Leben, seiner Ausbildung usw. nicht vergönnt war, sich in Muße und Konzentration mit der Frage zu beschäftigen, wie es möglich ist, dass sich ähnelnde mathematische Ausdrücke parallel in vielen Realitätsbereichen einsetzen lassen, der wird an dieser Stelle möglicherweise einer zwischenzeitigen “intellektuellen, strukturellen Sinnkrise” verfallen: Ist es denn nicht richtig, dass die Welt Zahl ist? Ist es denn nicht so, dass „überzeugte“ Mathematiker deshalb so enthusiastisch von ihrer Disziplin sprechen, weil sie berechtigterweise annehmen können, dass sie mit ihren Formeln den Schlüssel zu allen wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten in der Hand halten?
Beiden Fragen liegen Irrtümer zugrunde, doch die lassen sich recht einfach bearbeiten. Packen wir diese Irrtümer an und schaffen wir sie aus dem Weg:
Wir gelangen mit diesen Fragen in das Feld sogenannter “semantischer Theorien” – es geht darum, wie wir durch den Sinn unserer Annahmen Bezug nehmen können auf die Welt, auf die in ihnen befindlichen Strukturen und auf die darin ablaufenden Prozesse.
Insbesondere beschäftigen sich diese semantischen Theorien damit, wie sich mathematische Konstrukte – beispielsweise die linearen oder exponentialen Funktionen, die in Wissenschaft und Technik angewendet werden – auf die Welt beziehen können.
Die Antwort aus holistischer Perspektive, die mit der Philosophie des Idealismus verwandt ist und viel mit dem mittelalterlichen Universalien-Realismus oder Platons Ideen-Dogma gemein hat, ist, dass diese Konstrukte tatsächlich konstruktive Elemente der empirischen Welt sein könnten. Wir hätten mit dem mathematischen Modell in unserem Kopf oder auf dem Notizzettel, dieselbe Struktur erfasst, wie diejenige, die der Welt formend ihr Gepräge gäbe. Weil beides aus einer Quelle geschöpft sei, um zum einen die Welt zu formen und um zum anderen nach denselben Prinzipien die menschliche Sprache und unser mathematisches Denken durchwirke.
Ein sich von diesem Holismus abgrenzender Systemismus, wie dieser beispielsweise von Bunge entwickelt wurde und wie er typischerweise von empirisch-wissenschaftlichen Forschern vertreten wird, arbeitet mit einer grundlegend anderen semantischen Theorie. Und die lautet auf den Punkt gebracht: Mathematische Modelle lassen sich deshalb auf die Welt anwenden, weil sie ontologisch neutral sind und deshalb in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutung haben können.
Diese Formulierung dieser Theorie ist aber offenbar zu knapp, um denjenigen Lesern, die eben noch angesichts Bertalanffys Isomorphismus-Gedankengang verwirrt waren, überzeugend klar zu machen, wie der Standpunkt dahinter zu verstehen ist.
Zur Beruhigung – eigentlich sind die Zusammenhänge nicht schwer zu verstehen:
Schauen wir auf Mario Bunges semantische Theorie, um die Dinge zu klären. –
Aus seiner Sicht beschäftigt sich reine Mathematik nicht mit der realen Welt oder mit der Erfahrung, denn: Mathematische Beweise sind keine empirischen Beweise.
Mathematische Objekte wie Reihen, Funktionen, Klassen, Mengen, Matrizen, die Boolsche Algebra, topologische Räume, Zahlensysteme, Vektorenräume, Differenzial Gleichungen sind lediglich gedachte, rationale Dinge – “entia rationis” -, zudem sind sie “entia ficta”. Das heißt, mathematische Modelle sind Fiktionen, verdanken ihr Erscheinen unserer Fähigkeit, Fiktionen zu gestalten. Folglich ist der mathematische Begriff der Existenz, der in mathematischen Existenzsätzen in der Mengenlehre auftaucht, radikal anders im Vergleich etwa zu der Behauptung: “Klaus existiert.”, bei der es um die reale und materielle Existenz eines früheren Klassenkameraden geht. Daher sind alle mathematischen Existenzbeweise – wie alle übrigen mathematischen Beweise – rein konzeptuelle Verfahren. Kurz gesagt: Die abstrakte mathematische Wissenschaft und mit ihr die Mathematiker haben es mit Fiktionen zu tun – ähnlich wie abstrakte Maler, Autoren phantastischer Literatur und Erschaffer von Trickfilmen, in denen sprechende Mäuse, Enten, Eichhörnchen usw. vorkommen. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass mathematische Fiktionen nicht willkürlich formuliert sind wie Drehbücher für Trickfilme, sondern sie folgen mathematischen Gesetzen und können per mathematisch-logischer Beweisverfahren überprüft werden.
Noch einmal: Mathematik ist ontologisch neutral:
Mathematik – aber auch die Logik – behandeln keine konkreten Dinge, sondern Konstrukte wie beispielsweise Prädikate, Annahmen und Theorien. Das erklärt, warum die Mathematik inklusive der Logik die universelle Sprache der Wissenschaft, Technologie und selbst der Philosophie ist und warum sie die am besten auf unterschiedlichste Bereiche übertragbare und einsatzfähigste aller Wissenschaften ist.
Dabei ist folgendes zu beachten: Dadurch, dass mathematische Modelle „leer“ sind, und eine mathematische Formel – etwa eine der Differenzialgleichungen, die es Bertalanffy so angetan haben – nicht eher Teil der Physik oder einer anderen empirischen Wissenschaft werden, als dass sie mit faktischem Inhalt „angereichert“ werden.
Die Mathematik hat so betrachtet große Vorteile. Dazu meint Bunge: Die Mathematik wäre ein großes, üppig ausgestattetes Warenhaus mit gebrauchsfertigen Modellen, auf das Wissenschaftler, Technologen und Geisteswissenschaftlern zugreifen können, um die Strukturen und Prozesse in ihren jeweiligen Interessensgebieten abzubilden und zu analysieren.
Bunge hat Verständnis dafür, dass Menschen einst tief erstaunt über die Möglichkeit waren, Mathematik auf diese Weise in den Wissenschaften zur Modellierung realer Tatbestände zu nutzen. Insoweit hält er es für nachvollziehbar, dass beispielsweise Gottfried Wilhelm Leibniz – wie offenbar auch von Bertalanffy – an eine prästabilierte Harmonie zwischen Mathematik und der realen Welt zu glaubten. Dennoch sind sie bedauerlicherweise aus der Sicht moderner empirischer Wissenschaften einem irrationalen Glauben an eine überirdische Schöpfung verfallen. Aus Sicht moderner Wissenschaften ist auch nicht nachvollziehbar, was Bertalanffy in Bezug auf die Regelhaftigkeit und Strukturiertheit der Empirie behauptet: Die Welt ist nicht durchgängig “denkkompatibel” und “harmonisch”. – Dazu ein paar weiterführende Gedanken:
Der fiktionale Charakter der Mathematik ist Ursache dafür, dass ihre Modelle zwar als Werkzeuge gute Dienste tun, aber letztlich die Realität nur grob wiedergeben können. Bunge verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Mathematik präzise ist oder präzisierbar ist, während sich die reale Welt oft als chaotisch, schattenhaft und unklar, mit „unsauberen“ Rändern versehen erweist. Mathematik spiegelt die Realität nicht auf exakte Weise: Es gibt einen Bruch zwischen den beiden. Denn zum einen werden mathematische Konstrukte von Anwendern interpretiert, als besäßen sie eine autonome Existenz in einer Sphäre oberhalb der wandelbaren realen Welt. Zum anderen sind mathematische Modelle nicht geeignet, die in der Empirie verbreiteten Unregelmäßigkeiten und Unreinheiten zu erfassen. Zudem haben viele – wahrscheinlich die meisten mathematischen Konstrukte kein passendes Pendant in der Realität – es gibt nichts, was ihnen in der Realität vollständig und in allen Aspekten entsprechen könnte. Bunge sagt es metaphorisch: Dem Handschuh (der Mathematik) fehlen Finger – außerdem ist er nicht eng genug, um der Realität 100prozentig angepasst zu sein.
Zurück am Veranstaltungstag: Nach der Laudatio spricht Mario Bunge.
Zurück zum 22. April – direkt wieder hinein in die Festveranstaltung.
Laudator Rainer E. Zimmermann hat seine Laudatio abgeschlossen.
Mario Bunge übernimmt es nun, die Keynote für den Veranstaltungstag zu sprechen. Er nimmt zentral vor dem Auditorium, nahe des zentralen Whiteboard Platz, um im Anschluss während seiner Rede wichtige Konzepte auf der Tafel zu skizzieren.
Die Leser des vorliegenden Beitrags sind nun gespannt darauf zu erfahren, wie das Konzept seines Vortrags angelegt haben mag. Dazu sei direkt verraten, dass Bunge sich nicht scheut, sein systemisches Konzept deutlich herauszustellen und damit eine grundlegende Gegenposition zu dem einzunehmen, was die meisten Zuhörer als überzeugte General System-Theoretiker vertreten („He takes no prisoners!“).
Aber: Unhöflich wird Mario Bunge deshalb durchaus nicht.
Denn er verweist auf den Mitbegründer der General Systems-Bewegung und Kollegen Bertalanffys, auf Anatol Rapoport. Darauf, dass Rapoport als Mitinitiator der General System Theory übereinstimmend mit Mario Bunges semantischer Theorie die Ansicht vertrat, dass die Systemtheorie keine Theorie im eigentlichen Sinne ist. Rapoport war der Ansicht, dass der Systemismus stattdessen eine Sichtweise, ein Approach ist, der hilft Probleme zu erfassen und diese in ihrem realen Kontext zu betrachten. Das funktioniert, indem Systeme, ihre Komponenten, Subsysteme, Strukturen und Prozesse mit Hilfe einer Kombination von Bottom-up- und Top-down-Untersuchungs-Strategien analysiert werden.
Damit hebt sich Rapoport von einer holistischen Interpretation des System-Begriffs ab, der beschränkt ist auf Top-down-Betrachtungsweisen und deshalb – wie wir uns gerade vergegenwärtigt haben – nicht zu den Vorgehensweisen empirisch-wissenschaftlicher Forschung passt.
Die Wirkung von Bunges Worten? Wie wirken diese Hinweise auf die hier versammelten Systemtheoretiker? Werden sie ignoriert oder wird ihnen per Gegenrede begegnet?
Am Ende von Mario Bunges Vortrag wird deutlich, dass seine Botschaft tatsächlich bei den Zuhörern angekommen ist.
Das zeigen die nun aus dem Publikum heraus gestellten Fragen.
Einer der Zuhörer vergewissert sich noch einmal, ob er Mario Bunges Position tatsächlich richtig verstanden hat und dieser eine Gegenposition zur gängigen allgemeinen Systemtheorie vertritt. Mario Bunge bestätigt dies und stellt noch einmal heraus: Es kann keine allgemeine Systemtheorie und keine allgemeinen Systemgesetze geben. Forscher haben stets empirische Systeme zu untersuchen und hier nach den konkreten Mechanismen zu suchen, die hier wirken. Um diese Mechanismen zu erklären, müssten Forscher jeweils auf eine Vielzahl weiterer Theorien und Hypothesen zurückgreifen. Allgemeine Systemgesetze, die unabhängig von konkreten Erklärungsfall einsetzbar wären, sind Hirngespinste.
Ein anderer Zuhörer hatte verstanden, dass Mario Bunge den Systemismus vom Holismus abgrenzte. Um sich den Grund hierfür noch einmal erklären zu lassen, stellte er die Frage, wie das möglich sei, angesichts der unter seinen Kollegen verbreiteten Annahme, dass der Holismus ein wesentlicher Bestandteil einer Systemtheorie sei. Mario Bunge erklärt noch einmal die Probleme des Holismus und dessen Beschränkung auf Top-down-Betrachtungsweisen. Dabei stellt er heraus, dass der Holismus eine uralte Philosophie sei, ein Denkmuster, das häufig von Mystikern gepflegt und zu mannigfaltigen Mythologien ausgearbeitet wurde.
Dieser Austausch von Fragen und Antworten macht deutlich:
Der Preisträger des heutigen Tages konnte offenbar mit seiner Botschaft zu den Teilnehmern des Kongresses vordringen.
Der eine oder andere mag vielleicht den Impuls bekommen haben, seinen eigenen Systemismus einer Probe zu unterziehen und diesen mit den Standards abzugleichen, wie Bunge diese in seinem umfassenden Werk gesetzt hat.
Sollte dies bei dem einen oder anderen Teilnehmer geschehen sein, dann hätte sich der oben erwähnte Rock ’n‘ Roll-Enthusiasmus der Grußworte zu Beginn des Tages wortwörtlich auf die Zuhörer übertragen, sich also das in den Systemvorstellungen der fünfziger Jahren wurzelnde Denken in den Köpfen der Betroffenen tatsächlich bewegt:
„Roll over Bertalanffy, tell Parsons and Luhmann the News!
Ende der Reportage – Ende des Beitrags: So geht das! (So it goes!*)
*: Kurt Vonnegut Jr., Slaughterhouse-Fife or The Children’s Crusade – A Duty-Dance with Death, New York 1968.
Quellen:
- Bertalanffy, Ludwig von; “An Outline of General System Theory”, in: British Journal for the Philosophy of Science, Vol. 1, No. 2 (Aug., 1950),S. 134-165.
- Berry, Charles Edward Anderson; „Roll Over Beethoven“, Chess Records 1626, Chicago 1956.
- Bunge, Mario; Treatise on Basic Philosophy Volume 4. Ontology II (A World of Systems); Dordrecht, Boston, London 1979
- Bunge, Mario; “Moderate Mathematical Fictionism (1997)”, in: Mario Bunge, Scientific Realism, herausgegeben von Martin Mahner, S. 187- 203; Amherst, New York 2001
- Bunge, Mario; “The Gap Between Mathematics And Reality (1994)”, in: Mario Bunge, Scientific Realism, herausgegeben von Martin Mahner, S. 204- 210; Amherst, New York 2001
- Bunge, Mario; Emergence and Convergence: Qualitative Novelity and the Unity of Knowledge; Toronto, Buffalo, London 2003
- Droste, Heinz W.; Die methodologischen Grundlagen der soziologischen Handlungstheorie Talcott Parsons; Düsseldorf 1985
- Droste, Heinz W.; Kommunikation – Planung und Gestaltung öffentlicher Meinung. Band 1: Grundlagen; Neuss 2011
Fotonachweise:
- Fotos von der Veranstaltung: Bertalanffy Center for the Study of System Science (BCSSS)Verein zur Förderung der Systemwissenschaften/ EMCSR 2014
- Fotos Gibson ES 335: Pedion Verlag
Autor: Heinz W. Droste