Irrwege des Ruhms: Wenn Experten und Intellektuelle in der Krise öffentlich Meinung machen
Angesichts der Corona-Pandemie hat die internationale Wissenschaftsgemeinschaft beeindruckende Tatkraft bewiesen und in kürzester Zeit große Erkenntnisfortschritte beispielsweise rund um die Wirkmechanismen beim Eindringen in den menschlichen Körper erreicht.
Wer etwa Mitglied der American Association for the Advancement of Science (AAAS) – der weltweit größten Wissenschafts-Gesellschaft – ist, konnte anhand des Science-Newsletters und der wöchentlichen Ausgabe des Wissenschafts-Magazins Science just-in-time am ständigen Erkenntniswachstum teilhaben. Die AAAS hatte dazu eine spezielle COVID-19-News-Rubrik eingerichtet, die auch heute am 8. September 2020 ständig aktualisiert in Funktion ist.
Einer der Slogans der AAAS lautet „Now is the Time to Listen to Science” – „Jetzt ist es Zeit, auf die Wissenschaft zu hören“. – Schauen wir zurück auf die letzten Monate und fragen kritisch: Wird angesichts Corona tatsächlich auf die empirischen Wissenschaften und ihre Resultate gehört? – Hat insbesondere das Auftreten von wissenschaftlichen Experten sowie der Wissenschaft zugeneigten Intellektuellen für Klarheit, Orientierung und zur Lösung von Problemen geführt?
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Wissenschaftliche Experten: Professoren – das eine oder andere Mal gegeneinander ausgespielt
Zwar hat das Auftreten von inzwischen prominenten Professoren für starkes mediales Echo gesorgt. Es haben sich sozusagen Vertreter der Wissenschaft gefunden, die bereit waren, öffentlich dem medialen Sirenengesang mit ihrerer Ruhmesverheißung zu folgen. Das Interesse der Bundesbürger an den journalistischen Produkten der klassischen Medienkanäle – Presse, Funk und Fernsehen – wurde dadurch beflügelt.
So konnte ein Virologen-Podcast eines öffentlich-rechtlichen Senders durch die Beteiligung des Viren-Experten der Berliner Charité zum preisgekrönten Medienereignis werden.- „Der Spiegel“ landete kürzlich mit seinem Heft 32/2020 im Einzelhandel einen Bestseller mit dem Corona-Titel „Sind wir zu leichtsinnig?“
Das nur zu ein paar herausgegriffenen „Glanzpunkten“.
Kann deshalb gesagt werden: „Science sells“?
Wohl kaum! – Was sich in elektronischen Medien, Printmedien sowie auf deren Online-Plattformen verkaufte, waren nicht die wissenschaftlichen Daten, bestätigte oder falsifizierte Hypothesen – es war die mitunter dramatische Inszenierung von Wissenschaftlern als öffentliche Intellektuelle, die medial besonders lukrativ war: Von öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten rund um Auftritte in Talksendungen, über Berichte von per Post an Forscher verschickten Morddrohungen bis zu einem von der größten deutschen Boulevard-Zeitung aufgebauschten Pseudo-Wissenschaftsskandal war eine große Bandbreite an Auflagenzahlen garantierenden medialen Highlights zu beobachten.
Auch der altgedienten intellektuellen Prominenz wurde eine mediale Arena geboten – zum Beispiel Jürgen Habermas in der Frankfurter Rundschau am 15.04.20. Wie nicht anders zu erwarten, nutzte er die Gelegenheit, um seine Rolle als Kritiker zu spielen und wieder einmal die Erkenntnisansprüche empirischer Wissenschaften grundlegend in Frage zu stellen. Er nutzte das aktuelle Thema um zu betonen, was literate Kulturträger seit ehedem verkünden. „So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“.
Auch posthum werden angesichts der globalen Krise philosophische Intellektuelle der idealistisch-hermeneutischen Richtung ins Spiel gebracht. Denn “Ausgerechnet in das Corona-Jahr 2020 fällt auch der 250. Geburtstag von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dem Vollender des deutschen Idealismus und immer noch provozierenden Dialektiker. “ (neue Züricher Zeitung 29.06.2020)
Die „Verwender“ von Wissenschaft bewirken schwerwiegende Vertrauensverluste.
Welche Wirkung hatte diese massive Inszenierung von „öffentlichen Intellektuellen“ unterschiedlichster Couleur? Haben die empirischen Wissenschaften und ihre Forschungsresultate dadurch an Akzeptanz gewonnen?
Offenbar im Gegenteil – es ist stattdessen wieder die Wissenschafts-Aversion zu Tage getreten, die in der Bundesrepublik seit langem zu Hause ist. Immer dann, wenn in der Gesellschaft Risiken auftreten und Wissenschaftler um Rat und Orientierung gebeten werden, mündet die öffentliche Diskussion in Kritik an Wissenschaft und ihren Standards. Der Soziologe Ulrich Beck hat als Ursache in seinem Buch „Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne“ bereits im Jahr 1986 die „Autonomisierung der Verwendung von Wissenschaft“ beschrieben. Er beschreibt – um es einfach auszudrücken -, dass Politiker und andere interessierte Kreise sich angewöhnt haben, auf Wissenschaft willkürlich zuzugreifen (Beck 1986, S. 287 – Hervorhebungen vom Autor).
„Die Verwenderseite beginnt sich mehr und mehr mit Wissenschaft von Wissenschaft unabhängig zu machen.“ So (…) „verwandeln sich die Wissenschaften – auch die Naturwissenschaften – in Selbstbedienungsläden für (…) argumentationsbedürftige Auftraggeber.“
Was Ulrich Beck beschreibt, was wir in den letzten Monaten kontinuierlich verfolgen konnten: empirische Wissenschaften und hochrangige Wissenschaftler wurden durch die Medienöffentlichkeit regelrecht vorgeführt (Ebenda, S. 288):
„Praktiker und Politiker können (…) nicht nur zwischen Expertengruppen wählen, man kann sie auch innerhalb und zwischen Fächern gegeneinander ausspielen und auf diese Weise die Autonomie im Umgang mit Ergebnissen erhöhen.“
Wir konnten es beobachten: Suchten Vertreter der Politik „wissenschaftliche“ Begründungen für bestimmte Entscheidungen – etwa in Bezug auf die Öffnung von Kindertagesstätten oder Schulen -, griffen sie einfach auf den wissenschaftlichen Experten und seine Wissenschafts-Variante zurück, der ihnen rhetorisch entsprechend aufbereitet in den „Kram passte“.
Wissenschaftler als öffentliche Intellektuelle überschätzen den Wert akademischer Standards
Ein weitverbreitetes Problem öffentlicher Intellektueller insbesondere von Wissenschaftlern ist, dass sie die kommunikative Bedeutung ihrer Erkenntnisse fehleinschätzen.
Zu dieser Behauptung eine kurze Erläuterung aus dem Umfeld der aktuellen Pandemie: Schauen wir auf psychologischen Untersuchungen, über die wir kürzlich mit dem Rationalitätsforscher Keith Stanovich gesprochen haben. Es zeigt sich, dass die Infragestellung von Forschungsergebnissen zu COVID-19 wenig damit zu tun hat, dass Personen eventuell zu wenig Wissen haben. Es geht stattdessen um Bedürfnisse und darauf basierenden Emotionen dieser Personen, die eine entscheidende Rolle spielen.
Während Intellektuelle aus dem Lager der empirischen Wissenschaften die Bedeutung von wissenschaftlichen Tatsachen und Standards für den Ausgang von öffentlichen Diskussionen überschätzen, übersehen sie regelmäßig die stattdessen ausschlaggebenden Interessen und Werte von Personengruppen
Diese Problemkonstellation – Intellektuelle – Wissenschaftler – und Öffentlichkeit – ist von großem Interesse. Denn zum einen wird im Rahmen der längst noch nicht beherrschten Corona-Pandemie noch häufig empirisch-wissenschaftliches Wissen eine Rolle spielen. Angesichts eines Zukunfts-Szenarios mit sich steigernden Klimaveränderungen und deren ökologischen und sozialen Folgen wird der Wert akzeptierten wissenschaftlichen Wissens laufend zunehmen. Dabei werden wahrscheinlich regelmäßig Wissenschaftler als öffentliche Intellektuelle auf medialen Bühnen „vorgeführt“ werden.
Aus diesem Grund widmet sich dieser Beitrag im Detail den Hintergründen des Phänomens „Öffentliche Intellektuelle“. Zur Beleuchtung der Besonderheit des Auftretens dieser Spezie gehe ich im Folgenden das eine oder andere Mal auf die Beschreibung einer intellektuellen-Persönlichkeit ein, die ich dadurch „nebenbei“ ein wenig portraitiere. Und zwar greife ich auf Hintergrundinformationen über einen herausragenden Intellektuellen – den renommierten argentinischen, deutschstämmigen Physiker und Wissenschaftsphilosophen Mario Bunge zurück.
Mario Bunge hat im Rahmen seiner intellektuellen und wissenschaftlichen Karriere viel erreicht: Im Feld der Wissenschaftstheorie spielt er die Rolle eines wichtigen Vordenkers – so schrieb der deutsche Philosophie-Professor Bernulf Kanitscheider (Kanitscheider, 1984, S. VIII):
»Wenigen außerordentlichen Persönlichkeiten ist es vergönnt, die intellektuelle Geographie einer wissenschaftlichen Epoche entscheidend mitzugestalten. Mario Augusto Bunge gehört zu dem kleinen Kreis bedeutender Wissenschaftsphilosophen, deren Werke bereits jetzt zu Marksteinen in der geistigen Landschaft der Weltphilosophie geworden sind.«
Auf seinem Heimat-Kontinent Lateinamerika wird Mario Bunge heute als Vorbild geschätzt, weil er eine internationale Anerkennung erreichte, wie kein anderer südamerikanischer Philosoph vor ihm. Sein Werk wird heute als Beweis dafür betrachtet, dass auch Denker, die in einem Subkontinent arbeiten und schwierigsten Bedingungen ausgesetzt sind, aufsteigen können, um federführend an der internationalen Fachdiskussion auf höchstem Niveau teilzunehmen.
Soweit vorab zur Mario Bunges Positionierung.
Erforschung des „Public Intellectuals“ – erste Einordnung der „Spezie ‚Öffentliche Intellektuelle’“
In anglo-amerikanischen Gesellschaften beispielsweise ist die Diskussion des Stellenwertes öffentlicher Intellektueller und ihrer Bedeutung für die Medienlandschaft und die politische Diskussion eines Landes seit Jahrzehnten ein engagiert diskutiertes Thema unter akademischen Autoren (Etzioni & Bowditch 2006; Posner 2003). Zwischen diesen gibt es einen Fundus geteilter und akzeptierter Meinungen mit Blick auf die Schlüssel-Attribute sogenannter »Public Intellectuals« – PI’s – (siehe Etzioni 2006). PIs – public intellectuals – zeichnen sich demgemäß dadurch aus, dass sie ein weitgefasstes Themenspektrum behandeln, dass sie eher Generalisten als Spezialisten sind und dass sie dazu neigen, ihre Ansichten nicht für sich zu behalten. Besonders prädestiniert für das Spielen der »PI-Rolle« wären Personen, die weitgereist sind, über eine breitgefächerte Bildung verfügen und sich literarisch über »Myriaden« von Themen auslassen. Wobei sie über das Potenzial verfügen sollten, in wichtigen gesellschaftlichen Feldern für Resonanz zu sorgen. Dazu kommt, dass »öffentliche Intellektuelle« auf der Basis tiefschürfenden Wissens nicht nur über eine große Bandbreite an Themen hochkompetent sprechen können, sondern zum anderen Lösungen für ernste und für das Wohl und Wehe der Menschheit hochwichtige Angelegenheiten zu erdenken in der Lage sind (siehe Brower & Squires 2003).
Seine Autobiographie zeigt besonders eindrucksvoll, wie eindeutig Mario Bunge als Intellektueller die Kompetenz-Kriterien erfüllt, die für die Zuschreibung der PI-Eigenschaft vorausgesetzt werden:
»Weitgereist« ist er im wörtlichen Sinne, was bereits die Urlaubsberichte in seiner Autobiografie umfassend belegen (Bunge 2016). Im Rahmen seiner zahlreichen Gast-Professuren hat er jahrzehntelang auf beinahe allen Kontinenten gelehrt. Sein philosophisches Werk ist beispiellos angesichts Umfang, Bandbreite der behandelten Frage- und Problemstellungen und dabei vorbildlich durch Klarheit und Deutlichkeit der verwendeten Sprache sowie durch Produktivität und Kreativität seiner Argumentation. Das von ihm berücksichtigte Detailwissen überspannt den laufenden Forschungsstand eines ganzen Spektrums an Einzelwissenschaften wie Physik, Medizin, Hirnphysiologie, Psychologie, Soziologie, Politologie und Ökonomie. Er ist möglicherweise der einzige philosophische Autor, dem es bisher zutreffend gelungen ist, den Erkenntnissprung der modernen Physik – insbesondere den der Quantenmechanik und der beiden Relativitätstheorien – intellektuell und literarisch adäquat zu verarbeiten und als Prinzip einer umfassenden modernen aufgeklärten Philosophie auszuarbeiten. Dazu kommt, dass er als Denker und Autor immer wieder sein tiefschürfendes Wissen einsetzt und jenseits der Arbeit an seinen Forschungsschwerpunkten nutzt, um Lösungen für die großen aktuellen, die breite Öffentlichkeit bewegenden Probleme der Menschheit zu skizzieren.
Ein paar Beispiele:
In seinem kurzen Artikel »The Kaya Identity« rechnet Mario Bunge auf knapp drei Druckseiten in einer auch für Laien verständlichen Sprache das »kleine Einmaleins« der Verhinderung der weiteren Aufwärmung unserer Atmosphäre und des Eindämmens des Klimawandels vor (Bunge 2012a). Bei dieser Gelegenheit enthüllt er außerdem, wie der sogenannte »internationale Klimarat« – IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) – durch den nachlässigen Einsatz mathematischer Formalisierungen die zielführende Diskussion der Ursachen der Klimaerwärmung unnötig erschwert.
An anderer Stelle beschäftigt er sich ebenso gut verständlich mit der Finanzkrise in den Jahren 2007 und 2008 sowie mit dem dadurch ausgelösten jahrelangen Rückgang der internationalen Wirtschaftstätigkeit (Bunge 2012b). Er liefert überzeugende Argumente dafür, dass hinter diesen Problemen unter anderem die im Westen dominierende, auf theoretischen Irrwegen befindliche Volkswirtschaftslehre steckt, auf deren Basis Wirtschaftskrisen weder vorherzusehen, noch zu handhaben sind. Stattdessen kann seiner Meinung nach sogar gesagt werden, dass ihr Einfluss auf die internationale Wirtschaftspolitik die Krise überhaupt erst hervorgerufen hat.
Auch bei politischen Themen hält sich Mario Bunge nicht zurück und kann aufgrund seines umfassenden historischen Wissens für ein allgemein interessiertes Publikum erhellende Zusammenhänge herstellen: Bei einem Interview (Droste 2014, Droste 2015, S. 177), auf den vermeintlichen kulturellen und religiösen Konflikt zwischen der arabischen und der westlichen Welt angesprochen, argumentiert er, dass es hier um materielle und politische Interessen statt um weltanschauliche Differenzen geht. Zur Erläuterung fasst er in einem Atemzug Fakten aus dem europäischen Mittelalter, aus der Geschichte Frankreichs zu Kardinal Richelieus Zeiten sowie aus der Geschichte des Iran im 20. Jahrhundert zu einem verblüffenden Argument zusammen.
An dieser Stelle sei als Zwischenergebnis der ersten Überlegungen festgehalten: Mario Bunge verfügt deutlich über die Kompetenz, die von einem öffentlichen Intellektuellen zu erwarten ist.
Im nächsten Schritt stellt sich die Frage, ob sein umfassendes Werk tatsächlich zu dem Profil eines PI’s passt: Ist Bunges Denken tauglich, zu einer »öffentlichen Philosophie« gemacht zu werden und ihn als Intellektuellen und als »öffentlichen Philosophen« zu profilieren?
„Öffentliche“ Philosophien tendieren dazu, öffentliche Legenden zu werden.
Im Rahmen der vorliegenden Überlegungen, habe ich Mario Bunge direkt mit dem Thema konfrontiert. Es zeigte sich, dass er sich in der Vergangenheit mit der Vorstellung, ein öffentlicher Intellektueller zu sein, explizit kaum auseinandergesetzt hat und dass er das Konzept dahinter für ambivalent hält. Er antwortete ausweichend, »er wolle zwar als Intellektueller gehört werden, doch er möchte nie als ›großer‹ oder ›einflussreicher‹ PI erscheinen«.
Greifen wir den Hinweis auf die Ambivalenz des Konzepts des »public intellectual« auf und fragen, ob Publizität und Philosophie »kompatibel« sind. Offenbar ist dies nicht der Fall. Denn die Publizität eines philosophischen Werks bringt Diskussions-Prozesse in Gang, die aus der Sicht des Urhebers einer Philosophie kritisch zu betrachten sind:
Ein breites Publikum verbindet mit einer »bekannten« Philosophie die Vorstellung von einem »konsumierbaren« Kulturgut, das die Funktion hat, nachvollziehbar ein Weltbild und einen »originellen« Deutungsansatz zur Betrachtung der menschlichen Existenz zu liefern. Für die Nachvollziehbarkeit der jeweiligen öffentlich beachteten Philosophie ist wesentlich, dass das dahintersteckende Denk-Konzept sich in die verbreiteten Denk-Traditionen der betroffenen Bevölkerungsgruppe einfügt und in diesem Rahmen – »Frame« – Sinn ergibt.
Der Sinn kann darin bestehen, dass die betreffende Philosophie Antworten zu vertrauten Lebensfragen gibt und in die Lage versetzt, Erklärungen für existentielle Fragen – etwa nach dem Ursprung des menschlichen Lebens, nach ethischen Begründungen umstrittenen Verhaltens usw. – zu geben und alternative Haltungen gegenüber verbreiteten Lebenskonzepten entwerfen hilft.
Wird die Funktionsweise einer speziellen Philosophie als Sinnvermittlungs-Ressource betrachtet, zeigt sich mehr oder weniger deutlich, dass es keineswegs werkgetreue Konzepte aus den Original-Werken sind, die in der Diskussion des Publikums eine Rolle spielen. Stattdessen werden die Namen von Philosophien und Namen von deren Urhebern sowie ausgewählte Begriffe aus dem jeweiligen Werk herausgegriffen und umfassend mit mehr oder weniger werkfremden Vorstellungen und Ideen in Verbindung gebracht. Öffentliche philosophische Kulturgüter sind Bildungs-Inhalte, die Individuen als argumentative Schablonen – als „mindware“ – dienen, als Träger für eigene Gedanken oder auch als abstrakte Ausdrucksmittel für eigene Emotionen oder als argumentative Ressourcen, deren Überzeugungskraft für eigene Gedankengänge »ausgeliehen« werden.
Ein anschauliches und gut belegtes Beispiel sind die Transformationen, die Immanuel Kants Werk – dabei insbesondere seine Kritik der reinen Vernunft – im Rahmen ihrer Publizität erfahren hat (Kant A: 1781/B: 1787/1976). Für die breite Öffentlichkeit werden seit langem aus dem verwinkelten Konzept der Vernunftkritik simple Botschaften abgeleitet. getAbstract beispielsweise ist ein Online-gestützter Dienst, der Bücher populär und publik macht, indem er zu Fachbüchern nach einem einheitlichen Raster Abstracts veröffentlicht. Auch an Kants Werk hat sich getAbstract versucht – hier findet sich eine Zusammenfassung der Kritik der reinen Vernunft, die mit einer Auswahl öffentlich verbreiteter Interpretationen von Kants Argumentation arbeitet (getAbstract 2004). Im betreffenden Abstract wird u.a. behauptet »Immanuel Kant hat mit der Kritik der reinen Vernunft eine Revolution ausgelöst. (…) Der Königsberger Philosoph untersucht die Grundlagen unserer Erkenntnisfähigkeit und kommt zum Schluss, dass diese begrenzt ist.«
Da Kant die meiste Zeit seines Lebens in Königsberg gelebt hat, ist es tatsächlich vertretbar, ihn als »Königsberger« Philosoph zu bezeichnen. Der Rest der Deutung von getAbstract – Kant wäre der Vordenker eines konstruktivistischen Skeptizismus sowie ein Erkenntnis-Bezweifler gewesen – hat mit den Intentionen Kants wenig zu tun. Ihm ging es stattdessen darum, auf der Basis seiner drei Kritiken die aus seiner Sicht für die menschliche Ethik unverzichtbaren Ideen wie »Freiheit des Menschen«, »Dasein Gottes« usw. als unantastbare Vernunft-Instanzen zu definieren (Entsprechend bringt Kant die Intention der Kritik der reinen Vernunft in einem Brief an Christian Garve vom 21.9.1798 auf den Punkt. – (Kant 1972 S. 778). Kant ging es in der Vernunftkritik vor allem um die zweifelsfreie Absicherung von Vernunft-Einsichten, nicht um die Begründung von Zweifeln an unserer Erkenntnisfähigkeit.
Eine weitere weitverbreitete »folkloristische« Deutung der Kritik der reinen Vernunft geht in eine vollständig andere Richtung. So ist es populär, zu behaupten, Kants Absicht wäre es in der Vernunftkritik gewesen, durch das berühmte Konzept »synthetischer Sätze a priori« naturwissenschaftliche Empirie und empirische Gesetze zu rechtfertigen und deren Geltung zu sichern. Geschulte Kant-Rezipienten weisen regelmäßig darauf hin, dass es sich hierbei um eine vollständige Fehlinterpretation der Kritik handelt (Hoppe 1969, S. 7; Droste 1985 S. 14). Kant hatte stattdessen versucht, ein Modell unseres »Erkenntnis-Apparates« zu entwerfen und damit die allgemeinsten »Bedingungen möglicher Erfahrungen« zu diskutieren. Die Deutung, Kant hätte in der Kritik einen Weg gesucht und gefunden, emprirische Gesetzmäßigkeiten zu begründen, ist definitv falsch.
Auch der Soziologe Talcott Parsons ist der »Popularität« der Kritik der reinen Vernunft erlegen: »Whatever other philosophical postions may be possible, I have explicitly taken one in the Kantian tradition.« (Parsons 1978, S. 5). Er greift auf die Vernunftkritik zurück, um seine Vorstellung von der Semantik theoretischer Begriffe sowie sein Konzept des »wissenschaftlichen Tatbestands« zu erläutern (Parsons 1978a, S. 1357; Parsons & Schütz S. 127). Parsons spricht in diesem Zusammenhang von einem »epistemologischen Problem, das es zu lösen gilt »(…) the epistemological problem, that of the status of scientific concepts in relation to reality.« (Parsons, 1937/1968, S. 6). Er behauptet, durch den Einsatz theoretischer Konzepte würden aus vorwissenschaftlichen »Phänomenen an sich« wissenschaftliche Tatbestände – »facts« -, wie bei Kant aus Sinnesdaten durch Kategorien Erfahrungsgegenstände würden. Genau betrachtet erschöpft sich Parsons‹ »epistemologischer Klärungsansatz« darin, dass er die Hypothese formuliert, der Einsatz allgemeiner und definierter theoretischer Begriffe bei der Betrachtung der sozialen Welt hätte Vorteile gegenüber der Verwendung von Alltagssprache. Mittels des Rückgriffs auf Kant bemüht sich Parsons erfolglos, diesem schlichten wissenschaftstheoretischen Gedanken Tiefe und Überzeugungskraft zu verleihen. Kants Begrifflichkeit von »Dinge an sich« und »Erfahrungsgegenstände« in der Vernunftkritik hat demgegenüber nichts mit dem Thema der Begründung theoretischer Begriffe zu tun, auf die es Parsons angekommen ist (Droste 1985, S. 86).
Typisch für »öffentliche Philosophien« ist, dass Individuen in ihnen Ansätze für Lebenshilfe suchen.
Ein aktuelles Dokument, an dem ablesbar wird, wie das konkret funktioniert, ist die kurz vor dessen Tod erschienene Autobiografie des ehemaligen Kanzlers und Regierungschefs der Bundesrepublik Deutschland Helmut Schmidt, dem im Lauf seines Lebens wegen seiner politischen Verdienste unter anderem 24 Ehrendoktorwürden beispielsweise der Universitäten von Oxford, von Cambridge, der Sorbonne oder der Harvard University und von der Johns Hopkins University verliehen wurden.
Der spätere Kanzler der Bundesrepublik war als junger Mann während des Dritten Reichs frühzeitig zum Wehrdienst verpflichtet und teilweise zur Ostfront kommandiert gewesen – eine Erfahrung, die er bis zum Lebensende als belastend empfand. Im Jahr 1980 lernte er Karl Popper persönlich kennen, dessen »Die Feinde der offenen Gesellschaft« er gelesen hatte, und mit dem er bis zu dessen Tod im Jahr 1994 befreundet war. Schmidt beschreibt in seiner Autobiografie, dass er sich nach dem Krieg der Philosophie Kants zuwandte, um sich insbesondere in Situationen der politischen Unsicherheit neu auszurichten: »In dem moralischen Chaos, das die Nazis hinterlassen hatten, wurde mir Kant zu einem verlässlichen Kompass.« (Schmidt 2015) Kants Philosophie war seine Lebenshilfe, indem er – wie Schmidt es beschreibt – einige »Kantische« Aussagen in seinem Bewusstsein verankerte. So orientierte er sich an dem Satz: »Moralisches Handeln muss auf Vernunft gegründet sein.«, ohne dabei für sich in Anspruch zu nehmen, diese – recht allgemeine – Aussage selbständig aus Kants Werk ableiten zu können. Schmidt schätzte diesen Gedanken, weil er ihm nach eigener Einschätzung half, in bewegten Entscheidungs-Situationen innezuhalten und zu überlegten Handlungslösung zu kommen.
Diese Beispiele zeigen, wie die »Rezeption« eines philosophischen Werks und ihre Verwandlung in eine »öffentliche Philosophie« genutzt wird, um unterschiedlichste Dinge zu tun. Wie gesehen, wurde Kants Vernunftkritik genutzt, um die »trendige« Skepsis in Bezug auf die vermeintliche Allmacht wissenschaftlichen Wissens zum Ausdruck zu bringen. Genauso wird mehr oder weniger das genaue Gegenteil bezweckt, wenn behauptet wird, die Vernunftkritik untermauere die Gewissheit empirisch-wissenschaftlicher Gesetze. Theoretiker wie Talcott Parsons greifen auf Kants Kritik zurück, weil sie auf diesem Weg die Qualität ihrer abstrakten Konzepte zu belegen suchen. Und Individuen glauben, bei Kant moralische Regeln zu erkennen, die ihnen als eine Art Verhaltens-Kompass dienen können. Deutlich ist, dass kaum jemand, der aus Kants »öffentlicher Philosophie« in der einen oder anderen Richtung Nutzen zieht, jemals selbst in der betreffenden Kritik gelesen hat.
Um die Vernunftkritik herum hat sich offenbar eine »öffentliche Legende« gebildet, die mit dem Inhalt des Originalwerks wenig gemein hat. Das Schicksal dieser Form der Idealisierung teilen mit großer Wahrscheinlichkeit alle philosophischen Werke, die öffentliche Aufmerksamkeit erlangen.
Philosophieren funktioniert nicht öffentlich – die werkgetreue Vermittlung wesentlicher und fachlicher Details ist in der Öffentlichkeit angesichts der dafür erforderlichen hohen Expertise unmöglich. Was im günstigsten Fall von einem öffentlich gemachten philosophischen Werk übrigbleibt, ist ein gewisser positiver Eindruck, der bei Individuen ausgelöst wird und der sie motivieren kann, sich irgendwann einmal ernsthaft mit einem philosophischen Werk auseinanderzusetzen. Ihr Detailstudium des Werks könnte ihnen eröffnen, was der jeweilige Autor tatsächlich geschrieben hat.
Der jeweilige Student wird dabei voraussichtlich Überraschungen erleben, auf die ihn die werkferne öffentliche Diskussion der jeweiligen Philosophie nicht vorbereiten konnte. – Beispielsweise auf die im Jahr 1802 erschienene »Physische Geographie« von Immanuel Kant, in der dieser im zweiten Teil, 1. Absatz unter Paragraph 3 eine auf der menschlichen Hautfarbe gegründete Rassenhierarchie definiert:
»Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringes Talent. Die Neger sind weit tiefer und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften.« (Kant 1802, erste Abteilung, § 4).
Immanuel Kant war laut Nina Jablonski – Anthropologin und Paläobiologin an der Pennsylana State University – der erste Autor, der die geographischen Gruppierungen von Menschen als »Rassen« bezeichnete und definierte (Jablonski 2015, pp.80-1). Er differenzierte wie in dem Zitat angedeutet vier Rassen, die durch Hautfarbe, Beschaffenheit der Haare, Schädelform aufgrund weiterer anatomischer Merkmale charakterisiert sind und sich insbesondere durch ihre Fähigkeit zur Moral und zur Vernunfteinsicht unterscheiden. Was er in seiner Vernunftkritik als moralische Qualität definierte hat aus seiner Sicht uneingeschränkt nur für die »europäische Rasse« Geltung, während ihm die restliche Menschheit als defizitär erschien. Kants Werk kann so gesehen eher als Argumentations-Leitfaden für Rassen-Ideologien dienen – aber kaum widerspruchlos als der »moralische Kompass« gelten, den Helmut Schmidt in diesem vermutet hatte.
Wie er einen entscheidenden »Überraschungseffekt« persönlich erlebte, beschreibt Mario Bunge als Anekdote in einer autobiografischen Notiz (Bunge 2010, p.526). In seinem Fall war es Hegels Philosophie, dessen »Nimbus« ihn zunächst anzog, und dessen Lektüre in französischer Übersetzung zu einem starken Frustrationserlebnis führte: »Da schluckte ich mehr, als ich verdauen konnte.« Eine Erfahrung, die Mario Bunge dazu brachte, »öffentliche Philosophie« zunächst mit Skepsis zu betrachten und jeweils zu prüfen, ob deren öffentliche Wirkung möglicherweise lediglich auf der philosophischen Scharlatanerie des betreffenden »öffentlichen Intellektuellen« basiert. Für besonders »beispielhaft« hält er in diesem Zusammenhang jeweils die philosophischen Konzepte hinter dem genetischen Determinismus Dawkins‘ und hinter dem Nativismus Chomskys. Das deutet zumindest die Häufigkeit an, in der er auf deren angebliche Kritikwürdigkeit verweist.
Aus dieser Perspektive heraus betrachtet, scheint Mario Bunge sein eigenes Werk als Gegenentwurf zu einer typischen »öffentlichen Philosophie« konzipiert zu haben, indem er dafür ein strenges Bewertungskriterium definierte: »Philosophien sind nach der Art und Weise zu beurteilen, in der sie uns helfen, die Welt zu erkunden und darin zu handeln.« (Bunge 2012, p.XIV).
Statt nach Chancen öffentlicher Wirkung zu streben, orientiert sich Mario Bunge bei seinem Philosophie-Entwurf am Wissens-Ideal empirischer Wissenschaften: Er weist darauf hin, dass es hier anerkannte Bewertungs-Kriterien gibt, die sich kompakt zusammenfassen lassen – Klarheit der verwendeten Konzepte; inhaltliche Konsistenz; Bewährtheit angesichts der relevanten empirischen Fakten; Übereinstimmung mit der Masse des bereits vorliegenden bestätigten Wissens; Umfang der berücksichtigten Fragestellungen; das Potential, Lösungen für diese Fragen zu finden sowie die Fähigkeit, zukünftige Forschungsprojekte anzuleiten.
Deshalb kritisiert er die üblichen philosophischen Ansätze, deren Urheber sich seiner Ansicht nach nicht bemühen, allgemeine Beurteilungskriterien zu entwickeln und diesen mit ihren Veröffentlichungen zu entsprechen. Aus seiner Sicht werden in der öffentlichen Diskussion Philosophien positiv beurteilt oder verworfen, ohne dass klare oder objektive Kriterien dafür angelegt werden – stattdessen kommen hierbei oft Intuition, Nützlichkeits-Erwägungen oder Gefühle zum Tragen. Gemäß Bunge ein unbefriedigender Zustand. Deshalb formuliert er einen Leitsatz, anhand dessen wir philosophische Doktrinen bewerten sollten: Eine Philosophie ist wertvoll, wenn sie uns hilft, zu lernen, zu handeln, unser wertvolles kulturelles Erbe zu erhalten, und wenn sie uns anleitet, unser Zusammenleben mit unseren Mitmenschen zu fördern.
Um diesem Fruchtbarkeits-Kriterium zu entsprechen, hat Mario Bunge im Rahmen des viele Jahrzehnte erfordernden Aufbaus seiner Philosophie als eine integrierte »Wahrheitstechnologie« konzipiert, die einen kompletten Set mit Teil-Technologien umfasst wie Ontologie, Erkenntnistheorie, Methodologie, Praxeologie, Wertetheorie und Ethik sowie politische Philosophie.
Öffentliche Intellektuelle sorgen für Skandale
Zwischenergebnis an dieser Stelle ist, dass Philosophen und ihr Werk tatsächlich in gewisser Weise »öffentlich« werden können. Philosophien scheinen dabei eine wesentliche Voraussetzung erfüllen zu müssen, um tatsächlich wirkungsvoll öffentlich zu funktionieren: Erfolgreiche öffentliche Philosophien sollten angesichts mangelnder Fachkenntnisse des Publikums flexibel in ihrer Ausdeutbarkeit und in der Nutzbarkeit für unterschiedlichste Sinngebungs-Aktivitäten sein. Mario Bunges philosophischer Ansatz einer Wahrheitstechnologie zur Unterstützung von wissenschaftlicher Arbeit scheint auf den ersten Blick mit diesem Hintergrund nicht kompatibel zu sein.
Es stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, dass es gewissen philosophischen Werken tatsächlich gelingt, die für eine breite Öffentlichkeits-Wirkung vorauszusetzende Ausdeutbarkeit und Nutzbarkeit zu erreichen, um als »Kulturgut« bekannt zu werden und ihrem Urheber das Potential eines »öffentlichen Intellektuellen« zu verleihen. Wie kommt es dazu, dass es anderen philosophischen Werken nicht gelingt?
Einen wichtigen Hinweis für die vorliegenden Überlegungen ergab in diesem Zusammenhang ein Interview mit dem deutsch-kanadischen Politologie- und Soziologie-Professor Andreas Pickel, der in der Vergangenheit zwei Symposien zur Diskussion der Sozialphilosophie Mario Bunges organisiert hatte (Pickel 2004). Pickel stand darüber hinaus mit dem Philosophen über Jahre hinweg in regelmäßigem Gedankenaustausch.
Anlässlich des 22. European Meeting on Cybernetics and System Reseach, auf dem Mario Bunge am 22. April 2014 in Wien der sogenannte »Bertalanffy Award in Complexity Thinking« verliehen wurde, befragte ich ihn zum Thema Bekanntheit der Bungeschen Philosophie in der Fachwelt (Droste 2014a). Pickels Einschätzung war, dass Mario Bunges Philosophie bisher nicht die Bekanntheit erreichen konnte, die dieser angesichts ihres Umfangs und ihrer Relevanz für eine Vielzahl von Wissenschaften zukommt. Als Ursache sieht er den Umstand, dass der argentinische Autor sich nicht darum gekümmert hat, seine Anhängerschaft zu organisieren und eine eigene »Philosophie-Schule« zu begründen. Aus Pickels Beobachtung akademischer Kreise wäre dies beispielsweise im Fall der Anhänger Karl R. Poppers gelungen, die so etwas wie einen handlungsfähigen Kreis von Popperianern begründet hätten.
Greifen wir diesen Hinweis auf: Tatsächlich hat Popper im Laufe von öffentlichen Diskussionen tatkräftige Unterstützung durch Anhänger erhalten. Beispielsweise im Umfeld des sogenannten »Positivismusstreits« in den 1960er Jahren im deutschen Sprachraum, bei dem es um eine Kontroverse über Methoden und Werturteile in den Sozialwissenschaften ging. Gestartet wurde die Diskussion durch einen Beitrag von Popper auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Oktober des Jahres 1961 in Tübingen. In der Folge der auch öffentlich über Fachmedien und überregionalen Zeitungen ausgetragenen Debatte trat insbesondere Jürgen Habermas als Vertreter der Frankfurter Schule auf, um die Position von Poppers kritischen Rationalismus zu attackieren. Popper zeigte allerdings kein Interesse, sich öffentlich auf die Beiträge Habermas‹ einzulassen und darauf öffentlich zu reagieren.
Popper wurde darauf angesprochen, warum er sich der Diskussion zu entziehen schien (Grossner 1971). Seine Antwort war, er würde lieber daran arbeiten, seine eigenen Ideen möglichst einfach zu formulieren, statt sich auf Habermas‹ grausames Spiel einzulassen, »in anmaßendem Ton … Einfaches kompliziert und Triviales schwierig auszudrücken« (Grossner 1971, S. 289). Für die öffentliche Auseinandersetzung übernahm es statt Poppers ein Vertreter aus dem Kreis des kritischen Rationalismus‹ Poppers gegen den aus dem Bergischen Land stammenden Autoren auftreten: Der Soziologe und Philosoph Hans Albert bekam die Rolle des öffentlichen Verteidigers. Albert übernahm es in den folgenden Jahrzehnten stellvertretend, die Diskussion rund um den Positivismusstreit fortzuführen und den Hermeneutik-Ansatz Habermas‹ sowie dessen Nähe zur christlich-religiösen Dogmatik detailreich zu kritisieren (Albert 1994, S. 230-62; Albert 2008, S. 92).
Demgegenüber verfügte Mario Bunge nicht über so etwas wie eine Popperianische »Eingreiftruppe« für Konfliktfälle. Zudem ist zweifelhaft, dass er eine solche Form von Stellvertreterschaft akzeptiert hätte. Er schätzte es stattdessen, seine philosophischen Meinungsverschiedenheiten ebenso persönlich wie schonungslos auszutragen. »Er macht keine Gefangenen« hat das Andreas Pickel genannt.
Wie wenig Rücksicht Mario Bunge dabei auf Popularität seiner öffentlichen Diskussionsbeiträge genommen hat, lässt sich an einem Fall aus dem Jahr 1978 betrachten, als er am 16. Weltphilosophenkongress vom 27.8. bis zum 2.9. in Düsseldorf teilnahm. Mitten im Vortrag des australischen Hirnforschers Sir John Carew Eccles stand Bunge auf, um dessen Konzept der vermeintlichen Interaktion zwischen materieller Hirn-Substanz und immateriellem Bewusstsein scharf zu kritisieren (Bunge 2012, S. 22; Droste 2014).
Die Artikel der täglich während des Kongresses berichtenden Tageszeitungs-Journalisten belegen die Irritation, die bei den Teilnehmern der Veranstaltung im Messe-Kongress-Zentrum Düsseldorfs bewirkt wurde (Quelle: Zeitungsarchiv der Stadt Düsseldorf – Stadtarchiv Düsseldorf, Worringer Strasse 140, 40200 Düsseldorf). Hier war am nächsten Tag zu lesen, dass der Vortrag eines Nobelpreisträgers des Jahres 1963, der vor einem Jahr gemeinsam mit dem international bekannten Philosophen Sir Karl R. Popper den Bestseller »The Self and its Brain« geschrieben hatte, mit unangenehm schriller Stimme von einem Mann unterbrochen wurde, der auf diese Weise den geordneten Ablauf des Tages störte. Was der Hintergrund dieses Störers, welche wissenschaftlich begründeten Argumente er in diesem Augenblick vorbrachte und wie wenig überzeugend demgegenüber der in Eccles Vortag vorgebrachte Leib-Seele-Dualismus ist, wurde den Lesern der Düsseldorfer Zeitung nicht erläutert. Die anwesenden Redakteure konzentrierten sich auf den Tatbestand einer skandalösen Störung eines renommierten, prominenten und verdienstvollen Wissenschaftlers.
Dieser Düsseldorfer »Eccels-Skandal« zeigt, wie wenig die wissenschaftliche und philosophische Begründung von Thesen allein zu deren öffentlicher Bekanntheit beiträgt und Intellektuellen dabei hilft, das Image eines »öffentlichen Philosophen« zu erreichen. Diese Formen der Bekanntheit sind in gewissem Maß von einem gezielten Gestalten öffentlicher Meinungen abhängig, wie diese heute routinemäßig nicht nur von Journalisten in Massenmedien, sondern auch im Feld der sogenannten Public Relations eingesetzt werden.
Dabei ist es eine wichtige Erfahrung professioneller Publizitäts-Experten in Verlagen und in Kommunikations-Agenturen, dass die Nutzung von Skandalen das Erreichen von Öffentlichkeit von Personen und Themen nicht behindert, sondern stattdessen besonders wirkungsvoll unterstützt. Allerdings hat Bunge die Chance, seinen Skandal in Düsseldorf mediengerecht aufzubereiten nicht genutzt.
Wie so etwas erfolgreich praktiziert wird, das hat unter den international erfolgreichen »öffentlichen Philosophen« besonders anschaulich der bereits erwähnte Vertreter der Frankfurter Schule, Jürgen Habermas, vorgeführt. Habermas ist es gelungen, sich in der internationalen Öffentlichkeit als Intellektueller einen Namen zu machen und beispielsweise in der hundert Personen umfassenden Rangliste bedeutender »Public Intellectuals« der englischsprachigen Medien Foreign Policy und Prospect Magazine bei einer Abstimmung im Jahr 2005 einen beachtlichen siebten Platz direkt hinter dem Ökonomen Paul Krugman zu erreichen. Er ist damit in dieser Liste der höchstnotierte »Philosoph«. Den ersten Platz erreicht der von Mario Bunge wegen seines linguistischen Konzepts scharf kritisierte Noam Chomsky, während er selbst in dieser Rangliste überhaupt keine Erwähnung findet.
Wie konnte Jürgen Habermas diesen Status erreichen, obwohl er beispielsweise gemäß der Maßstäbe, die Mario Bunge an Philosophien anlegt, wenig geleistet hat?
»Der einzige heute außerhalb Deutschlands bekannte deutsche Philosoph ist Jürgen Habermas. Meiner Meinung nach schreibt er oberflächlich und langatmig. Ihm ist es gelungen, allen wichtigen, von der zeitgenössischen Wissenschaft aufgeworfenen Fragen auszuweichen, insbesondere denen der Atomphysik, der Evolutionsbiologie, der biologischen Psychologie und der Sozioökonomie. Sein Versuch, Hegel, Marx und Freud zu verschmelzen, hat kein kohärentes System erbracht, und stellt keinen empirischen Forschungsansatz dar. Darüber hinaus verrät sein Vermischen der Konzepte von Wissenschaft, Technologie und Ideologie, dass er von diesen drei Feldern keine Ahnung hat.« (Quelle Bunge-Interview – Droste 2015, S. 182)
Jürgen Habermas hat es beispielhaft verstanden, seine Bekanntheits-Karriere vor allem systematisch auf der Basis von öffentlich ausgetragenen Skandalen aufzubauen. Einige seiner wichtigen Stationen auf dem Weg zum international erfolgreichen »öffentlichen Philosophen«:
Nach dem Studium startete er seine berufliche Karriere als Redakteur der in Frankfurt am Main erscheinenden, weitverbreiteten überregionalen Tageszeitung Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), wodurch er in der Lage war, am 25. Juli 1953 einen ganzseitigen Artikel zu veröffentlichen, in dem er Martin Heidegger und dessen Unbelehrbarkeit in Bezug auf die Verbrechen der Nazis skandalisierte. Obwohl Habermas selbst durch Heideggers Philosophie geprägt ist und beispielsweise während seines Studiums durch enge Heidegger-Mitarbeiter, die nach dem Krieg zunächst mit Lehrverbot belegt waren, geschult wurde und er Heidegger Jahrzehnte später öffentlich auch wieder als großen Denker lobt und vor vermeintlich unfairer »Diskreditierung« schützen zu müssen glaubt (Habermas 1989), gelang ihm mit der Skandalisierung des Existenzphilosophen und langjährigen Mitglieds der NSDAP ein wichtiger Schritt in Richtung öffentlicher Aufmerksamkeit. Das hatte im Jahr 1953 einigen Mut erfordert, denn Heidegger war trotz seiner Verstrickung unter anderem in die Hochschulpolitik der Nationalsozialisten in der Nachkriegszeit selbst enorm bekannt und populär: So beobachtete der deutsch-amerikanische Philosoph Walter Arnold Kaufmann zu dieser Zeit, dass Heideggers Vorlesungen so gut besucht waren, dass diese mittels Lautsprecheranlagen in mehrere Säle übertragen werden mussten, um das öffentliche Interesse an seiner Person und seinem Werk zu befriedigen (Kaufmann 1957).
»Skandalisierungen sind umso wirkungsvoller als Instrument, Bekanntheit und Aufmerksamkeit zu erreichen, je bekannter die skandalisierte Person ist« – das ist eine Einsicht, die in Zeitungsredaktionen regelmäßig genutzt wird, um für wirtschaftlichen Erfolg ihrer Blätter zu sorgen. Um mit dem Mittel des Skandals arbeiten zu können, investieren Verlage und Publizisten beispielsweise in sogenannten »investigativen Journalismus« insbesondere rund um die Verfehlungen prominenter Persönlichkeiten. Als Habermas den prominenten Heidegger skandalisierte, nutzte er so gesehen eine bewährte journalistische Praktik. – Eine weitere wichtige Skandalisierung gelang Jürgen Habermas dann im Rahmen des erwähnten Positivismusstreits ab dem Jahr 1961 mit der Stigmatisierung des kritischen Rationalismus Karl R. Poppers als »positivistische« Philosophie.
Der Raum fehlt hier sämtliche Fälle Habermasscher Skandalisierungskampagnen vorzuführen. Eine weiterer Fall aus der jüngeren Vergangenheit soll dennoch skizziert werden, da er besonders aufschlussreich und in Details gut dokumentiert ist: Der prominente Bestseller-Autor Peter Sloterdijk hatte im Juli 1999 auf einem philosophischen Symposium den Vortrag »Regeln für den Menschenpark« gehalten. Habermas nahm das zum Anlass, Sloterdijks Position zum Thema Eugenik zu skandalisieren und sich selbst in der Öffentlichkeit zu profilieren. Der Autor Sloterdijk beklagte sich daraufhin über das taktische Vorgehen Habermas‹: Dieser habe ein Netzwerk von Schülern in einflussreichen Zeitungen angewiesen, öffentlich Sloterdijks Argumentation überspitzt darzustellen und künstliche Aufregung zu provozieren, um Habermas selbst auf unfaire Weise eine Plattform und Öffentlichkeit für seinen eigenen Beitrag zur Eugenik-Debatte zu verschaffen (Wikipedia 2010).
Dass die allgemeine Aufmerksamkeit einer Philosophie und die Bekanntheit eines Philosophen durch journalistische Kampagnen und durch skandalträchtige thematische Aufhänger erreicht wird, könnte als bizzares Randphänomen in der Philosophie-Geschichte gedeutet werden. Doch es ist ein Geschehen, dass Philosophie bereits seit Jahrhunderten begleitet. Das zeigt beispielsweise eine Analyse der Geschichte der Rezeption wiederum der einflussreichen Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant, die im Jahr 1781 in der ersten Auflage erschienen war:
Die schwer verständliche Vernunftkritik wurde selbst unter philosophischen Experten kaum gelesen. So schrieb der Aufklärer Moses Mendelssohn, von dessen Urteil sich der Königsberger Philosoph vielversprochen hatte, am 10. April 1783 in einem Brief an Kant:
»Meine Nervenschwäche verbietet mir alle Anstrengung … Ihre Kritik der reinen Vernunft ist für mich auch ein Kriterium der Gesundheit. So oft ich mich schmeichele an Kräften zugenommen zu haben, wage ich mich an dieses Nervensaft verzehrende Werk, und bin nicht ganz ohne Hoffnung, es in diesem Leben noch ganz durchdenken zu können.« (Kant, 1972, S. 212-3)
Die selbst für wohlwollende Fachleute »Nervensaft verzehend« erscheinende Kritik war in der breiten Öffentlichkeit vollständig unbeachtet geblieben. Das änderte sich erst, als Kants Buch im damaligen sogenannten »Pantheismusstreit« von dem aus Wien stammenden Ex-Jesuiten Karl Leonard Reinhold aus Eigeninteresse als publizistisches Werkzeug eingesetzt wurde. Reinhold gehörte zu den Illuminaten, einem Zirkel von Intellektuellen, die sich mit der Diskussion der Ideen der Aufklärung auseinandersetzten. Insbesondere ging es Ihnen darum, die aus ihrer Sicht »skandalösen« Schlussfolgerungen aus dem damals leidenschaftlich diskutierten Spinozismus und Materialismus zu bannen. Um eine überzeugende Gegenposition zum daraus abgeleiteten Atheismus zu propagieren, schrieb Reinhold in der in Weimar erscheinenden Literaturzeitschrift Der Teutsche Merkur eine Folge von Artikeln »Briefe über die Kantische Philosophie«. Diese Briefe vereinfachten den Inhalt der Kritik stark und deuteten sie in eine Vernunftbegründung christlicher Dogmen und christlicher Ethik um. Erst mit diesen Briefen und auf der Basis einiger anderer publizistischer Interventionen konnten Reinhold und andere Publizisten die Grundlage für Kants Karriere-Durchbruch legen und den Einfluss seiner Kritiken auf die folgenden Philosophen etwa des Idealismus begründen (Israel 2012, S. 721-40).
Auf der Suche nach dem Applaus der wissenschaftlichen Gemeinschaft
Andreas Pickel hat wie gesehen darauf hingewiesen, dass Mario Bunge zu wenig im Feld des öffentlichen Ruhms erreicht und machte das daran fest, dass dieser keine Philosophen-Schule aufgebaut hat. Mario Bunges Konzept öffentlicher Anerkennung scheint einem deutlich anderen Konzept von Bekanntkeit zu folgen, als dem, das bei den publizistischen Interventionen in den Fällen der »öffentlichen Philosophen« Habermas und Kant eine Rolle spielen. Zudem zeigt das Beispiel des Düsseldorfer »Eccles-Skandals«, dass er anders als beispielsweise Jürgen Habermas PR-Effekte seiner Aktivitäten nicht ins Kalkül zu ziehen schien.
Mario Bunge plante seine Bekanntheit nicht nach Maßgabe einer journalistischen Kommunikations-Kampagne, sondern favorisierte mit Blick auf sein eigenes Werk als Hintergrund das wissenssoziologische Konzept von Robert Merton, auf das er sich regelmäßig beruft (Bunge 1983, S.204).
Wie Merton in seinem bekannten Artikel über den sogenannten »Matthäus Effekt« in den Wissenschaften ausführt, ist die erfolgreiche Publizität eines Intellektuellen im Feld der Wissenschaften eng verknüpft mit den Leistungen in seinem Forschungsfeld.
Merton beschreibt im Einzelnen, dass es hier dennoch ein Paradoxon gibt: Wissenschaftler, die bereits große Bekanntheit erreicht haben, bekommen häufig Verdienste anderer zugeschrieben, ohne die entsprechenden Leistungen selber erbracht zu haben. Merton weist in diesem Zusammenhang auf das Matthäus Evangelium: »Denn wer hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen.« (Merton 1988, S. 608-9)
Merton erläutert in der Folge, dass es Wissenschaftlern als Intellektuellen trotz dieser Form unverdienter Popularität um eine besondere Form von Ruhm geht, die sich deutlich von einer Berühmtheit in der breiten Öffentlichkeit unterscheidet. Es ginge nicht um das »Messing der populären Prominenz«, sondern um das »Gold des wissenschaftlichen Ruhms«. Er erwähnt in seinem Artikel dazu einen Vortrag des Ökonomen Paul Samuelson, der bei einer Ansprache im Kreise seiner Kollegen betonte, dass es Fachwissenschaftlern wie ihnen nicht um das Glänzen in der allgemeinen Öffentlichkeit geht. Stattdessen ginge es ihnen um die einzig lohnenswerte Auszeichnung für einen Ökonomen: um den Applaus der Fachkollegen.
Legen wir zur Beurteilung von Mario Bunges Fall von Publizität beispielsweise die sogenannte »Hall of Fame« der American Association for the Advancement of Science (AAAS) zugrunde, wird deutlich, dass der argentinische Philosoph mit seinem Werk erfolgreich genau diesen Applaus von Fachkollegen erreichen konnte. In diesem Fach-Ranking von Wissenschaftlern aufgrund der Häufigkeit, in der ihre Werke in Fachpublikationen zitiert werden, waren seine Schriften im vorderen Feld positioniert. Hier befand sich Mario Bunge mit seinen Veröffentlichungen in direkter Nachbarschaft zu prominenten Forscher-Persönlichkeiten wie Richard P. Feynman – Physiker und einer der Schöpfer der Quantenelektrodynamik – und Viktor Emil Frankl – Psychiater und Begründer der Logotherapie. Im Unterschied dazu spielte Jürgen Habermas, der in einer von Massenmedien zusammengestellten Liste von internationalen »öffentlichen Intellektuellen« wie gesehen einen Spitzenplatz erreicht, in der »Hall of Fame« keine Rolle.
Hier werden Rang-Plätze aufgrund von fachlicher Qualifikation und Positionierung bestimmt. Habermas‹ Werk scheint unter Maßgabe solcher Kriterien bedeutungslos. Er gilt unter soziologischen Fachwissenschaftlern als Autor, dessen Veröffentlichungen nicht zu dem Konzept einer »Sozialwissenschaft als Wirklichkeitswissenschaft« passen – wie es der österreichische Soziologe Max Haller in seinem Lehrbuch zur theoretischen Soziologie ausgeführt hat (Haller 2006). Aus der Sicht des international renommierten Universitätsdozenten und ehemaligen Präsidenten der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie abstrahiert Habermas von der gesellschaftlichen Realität, um stattdessen moralisch zu argumentieren. Haller kritisiert, dass Habermas versäumt, seine Konzepte mit wissenschaftlichen Erklärungen sozialen Handelns oder sozialer Prozesse zu begründen (Haller 2006 S. 50-1) – einen »empirielosen Theorismus« nennt der Schweizer Soziologe Peter Max Atteslander Habermas‹ Argumentations-Strategie (Atteslander 2006, S. 312). – Bei der Diskussion wissenschaftstheoretischer Fragestellungen innerhalb der Soziologie – etwa der Begriffe Sozialsystem, Systemstruktur übrigens – favorisiert Max Haller bezeichnenderweise in seinem Theorie-Lehrbuch das Werk Bunges und bezieht sich dabei auf dessen „Finding Philosophy in Social Science“.
Die Schwierigkeit, die großen wissenschaftlichen und philosophischen Fragen öffentlich zu klären
Mario Bunges empirisch-wissenschaftlicher Philosophie-Ansatz hat wie gesehen auf Fachwissenschaftler tatsächlich Wirkung ausgeübt und in verschiedenen Forschungsfeldern Bekanntheit erreicht. Wie Mario Bunge zu Abschluss seiner Autobiografie bemerkt, betrachtete er seine Bücher wie ein Wissenschaftler als ein vorläufiges Arbeitsergebnis, als Teil eines laufenden Forschungsprojektes – im krassen Gegensatz etwa zu »heiligen Schriften« einer Sekte, die lediglich als Vorlagen der Predigten ihrer Jünger dienen (Bunge 2016, S. 408).
Passend dazu hatte er einen »B Test« mit folgenden Prüfungs-Fragen zur Überprüfung des Wertes von Philosophien vorgeschlagen (Bunge 2003, S. 29):
- A. ist diese klar und konsistent formuliert?
- B. ist sie mit den bekannten und bestätigten empirischen Fakten in Übereinstimmung?
- C. hilft sie, interessante neue philosophische Probleme zu identifizieren?
- D. hilft sie, Schlüsselbegriffe der Philosophie zu klären und zu systematisieren?
- E. bietet sie Unterstützung, um Untersuchungen innerhalb und außerhalb der Philosophie voranzubringen?
- I. setzt sie in die Lage, kompetent und konstruktiv, an aktuellen wissenschaftlichen, moralischen oder politischen Kontroversen teilzunehmen?
- G. hilft sie dabei, Unsinn zu identifizieren?
- H. verfügt sie über ein niedriges Wort-Gedanke-Verhältnis – ist sie treffend formuliert?
Um mit seiner eigenen Philosophie dieser durch das Konzept empirischer Wissenschaften inspirierten Checkliste gerecht zu werden, hat Mario Bunge wie oben bereits angesprochen sein Werk als Ganzes als umfassende »Wahrheits-Technologie« entworfen. Hiermit setzt er sich bewusst von »populären« Philosophen und ihren Werken ab und gewinnt seine individuelle Positionierung. Dazu hebt er mit Blick auf seine Philosophie die Perspektive des umfassenden Problemzusammenhangs hervor. Denn sein Grundkonzept besagt, dass die »großen Fragen der Philosophie miteinander eng verknüpft« sind (Bunge 2010a, S. VII-XII). Das ist aus seiner Sicht der Grund dafür, warum es sich hierbei um große und nicht etwa um kleine Probleme handelt. Diese treten nicht separiert oder vereinzelt auf, sondern bilden ein verschlungenes Fragebündel und sind in diesem Gesamtzusammenhang zu bearbeiten, um bewältigt zu werden.
Laut Mario Bunge erfordert diese Bewältigung des philosophischen Problem-Komplexes möglichst klare Gedanken gestützt auf eine integrierte Begrifflichkeit sowie ein systematisches Vorgehen. Wer aus seiner Sicht aus dieser umfassenden Problemperspektive in den Werken populärer philosophischer Autoren blättert, erkenne schnell, dass hier das Verfolgen einer umfassenden Systematik kaum eine Rolle spielt. Eher zu beobachten sei die bloße Aneinanderreihung mehr oder weniger »tiefschürfender« Aphorismen. Aus Sicht Mario Bunges erreichen die damit dargebotenen verstreuten, vermeintlich klugen philosophischen Gedanken nicht das Ziel umfassender philosophischer Problemklärung. Stattdessen sieht er solche fragmentierten Gedanken als Zeichen dafür, dass gedanklich improvisiert wird, statt dass werthaltige und anschlussfähige Gesamtkonzepte entwickelt werden.
Eine Philosophie, die diese Werthaltigkeit und Anschlussfähigkeit erreichen kann, folgt gemäß Mario Bunge einer spezifischen Systematik, die er an verschiedenen Stellen seines Werks erläutert, und die in der Regel über folgende Struktur verfügt (Bunge 2006, S. 250-82):
- Ontologie – Seinslehre: die Lehre vom Grundaufbau der Realität
- Epistemologie – Erkenntnislehre
- Semantik – Theorie des Bezugs von Sprache und Symbolen zur Realität sowie der Kriterien der Formulierung objektiven Wissens
- Methodologie – Theorie der Methoden zur Ermittlung objektiven Wissens
- Axiologie – Theorie der Werte und der objektiven Kriterien zur Beurteilung von Wertschätzungen
- Ethik – Theorie der Moral
- Praxeologie – Theorie des effektiven und moralischen Handelns
Diese Besonderheit seines philosophischen Konzepts – ihre unvermeidbare inhaltliche Verbundenheit und Geschlossenheit komplexer Problemzusammenhänge hat entscheidende Auswirkungen auf die Möglichkeit, Mario Bunges Philosophie einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Denn die Komplexität dieses Werks überbeansprucht das Abstraktionsvermögen philosophischer Laien zum einen und macht dadurch zum anderen die Popularisierung von Mario Bunges Büchern enorm schwierig.
Einen lebendigen Einblick in diese Vermittlungs-Problematik bekam ich stellvertretend für Bunge im Vorfeld dieser Überlegungen als Buch-Autor einer deutschsprachigen Einführung in die Philosophie des Argentiniers (Droste 2015). Auf Vermittlung des herausgebenden Verlages bekam ich Gelegenheit, in Frühjahr und Sommer des Jahres 2016 den Inhalt des Buchs auf einer Lesereise in Süddeutschland einem Laien-Publikum vorzustellen. Haupterfahrung dieser Lesungen war: Auf der einen Seite zeigte sich, dass Mario Bunges Konzepte im Detail ein Publikum fesseln können, das über keine besondere Erfahrung im Bereich Philosophie verfügt. Allerdings braucht die Vermittlung und Erläuterung der großen thematischen Verflechtungen seines Werks viel Zeit. Folge im Rahmen meiner Vorträge war, dass ich regelmäßig von Veranstaltern kritisiert wurde, weil die Lesung sich durch Nachfragen und Detail-Diskussionen derart in die Länge zog, dass der vorgegebene Zeitrahmen der jeweiligen Veranstaltungen meist „überstrapaziert“ wurde.
Die Weitgespanntheit der philosophischen Inhalte machen es allerdings nicht nur Laien schwer, den besonderen Wert Mario Bunges Philosophie nachzuvollziehen. Beobachtungen zeigen, dass auch Fachwissenschaftler, die seine wissenschaftstheoretischen Schriften in ihrem jeweiligen Fachbereich gut kennen und schätzen, Probleme haben, das umfassende Gesamtkonzept seiner Philosophie zu würdigen. Ein Grundproblem beispielsweise ist es für Sozialwissenschaftler auf der einen Seite und Naturwissenschaftler auf der anderen Seite, Mario Bunges typisches Übersteigen dieser beiden fachlichen »Dimensionen« – Gesellschafts- versus Naturwissenschaft – nachzuvollziehen.
In diesem Zusammenhang führte ich Gespräche mit zwei Autoren, die Bunges Philosophie nahestehen und mit ihm persönlich verbunden waren.
Vertreter der Sozialwissenschaften war dabei der bereits erwähnte Andreas Pickel – Soziologie- und Politologie-Professor an der Trent University, Petersborough, Ontario, Kanada. Mit ihm sprach ich bei einem Treffen anlässlich eines Berlin-Besuchs des Professors am 10. und am 11. September 2015 über die Vermittelbarkeit verschiedener wissenschaftstheoretischer Konzepte, die Bunge für das Feld der Sozialwissenschaften empfiehlt. Beispielsweise nutzt Mario Bunge bei der Diskussion des Konzepts des Sozialsystems den Emergenz-Begriff. Bei der Diskussion von Mario Bunges hiermit zusammenhängenden »systemistisch-emergentistischen Materialismus« mit Andreas Pickel zeigte sich, wie schwer nachvollziehbar für Sozialwissenschaftler Bunges Abgrenzung der epistemologischen Interpretation von derjenigen der ontologischen Interpretation der Emergenz ist (Droste 2011, S. 157-60). und dass hier offenbar für Vertreter des entsprechenden Wissenschafts-Bereichs grundlegender Klärungsbedarf besteht.
Ein weiteres Beispiel für ein Detail, das Fachwissenschaftlern Verständnisprobleme verursacht, ist Mario Bunges Konzept der Subjektunabhängigkeit und Materialität von kulturellen Artefakten. Sozialwissenschaftlern, denen häufig in wissenschaftstheoretischen Seminaren die »3-Welten-Lehre« von Popper als philosophische Grundperspektive nahegebracht wurde, ist es schwer zu vermitteln – es wirkt beinahe verstörend -, dass im Rahmen einer materialistischen Ontologie konsequent kein Platz für eine »Welt realer objektiver Gedankeninhalte« besteht (Droste 2011, S. 194-7). Bunge spricht in diesem Zusammenhang vom »Mythos des subjektunabhängigen Wissens« und empfiehlt die Nutzung eines gemäßigten Fiktionalismus. – Sozialwissenschaftler müssten zunächst ihre tiefsitzenden, aus dem Idealismus übernommenen Vorstellungen der Dynamik und Wirksamkeit von kulturellen Phänomen wie nationale Sprache, nationale Identitäten usw. fallenlassen, um sich hierauf einlassen zu können.
Den – sich meist auf einer anderen, häufig einer »wissenschaftlicheren« Seite wähnenden – Naturwissenschaftlern begegnen ebenfalls Probleme mit Bunges philosophischer Gesamtperspektive. Das ergab ein Interview mit Martin Mahner, einem promovierten Zoologen, Co-Autor und Freund Mario Bunges, den ich am 17. Februar 2015 am Standort seines Arbeitsplatzes in Roßdorf bei Darmstadt interviewen konnte.
Mario Bunge hatte mich per Korrespondenz bereits auf das Gespräch mit seinem ehemaligen Postdoktoranten eingestimmt: »… der Unterschied zwischen mir und Martin Mahner besteht darin, dass er nicht an die Sozialwissenschaften glaubt – er ist nicht nur Biologe, sondern auch ein Biologist. Deshalb bezeichnet er sich als Naturalist.«
Das folgende Interview bestätigte Bunges Hinweis: Mahner zeigt sich im Laufe des Interviews nicht interessiert an einem Gespräch über vermittelnde wissenschaftsphilosophische Konzepte für Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Weder die wissenschaftstheoretische Diskussion in der Soziologie und den angrenzenden Gesellschaftswissenschaften war für das Interview ein möglicher Diskussionspunkt, noch die neuzeitliche Philosophie-Geschichte. Stattdessen kritisierte Mahner mit Blick auf seinen Aufenthalt als Postdoktorant an der McGill University, dass Mario Bunge sich damals, Anfang der 1990er Jahre, auf die Sozialwissenschaften konzentrierte, statt sich einem naturwissenschaftlichen Forschungsfeld wie beispielsweise der Biologie zu widmen.
Im Dienste des eigenen Ruhms arbeiten
Zwischenergebnis an dieser Stelle: Die Ganzheitlichkeit seines philosophischen Konzepts erschwert die Popularisierung Mario Bunges Werks genauso, wie es das Auftreten einer breiten Anhängerschaft für sein philosophisches Gesamtkonzept unwahrscheinlich macht.
Bunges philosophische Forschungsstrategie, seine umfassende Problemperspektive sowie seine Strategie, im Laufe seines Arbeitslebens Problembereich für Problembereich zu vertiefen und nacheinander jeweils auf unterschiedlichste Wissenschaftsfelder zu fokussieren, hat weitere Nachteile für die Bekanntheit seines Werks:
In seiner Autobiografie kommt er immer wieder auf das ihm wichtige Thema der Herausgabe seiner Bücher zu sprechen. Er beschreibt, wie er sich häufig über längere Zeiträume geduldig um passende Verleger bemühen musste. Eine typische Lebenssituation für ihn: Wer mit ihm korrespondierte und sich nach seinem Befinden erkundigte, bekam als Indikatoren für seine Situation ein aktuelles Buchprojekt genannt sowie den Status bei der entsprechenden Suche nach einem möglichen Verleger.
Autoren, die sich anders als Mario Bunge stärker auf ein überschaubares Themenspektrum konzentrieren, in dem sie bereits erfolgreich Öffentlichkeit und Verkaufserfolg erreicht haben, erzielen bei Lektoren und Verlagen schneller Zustimmung – Marketing- und Vertriebsmaßnahmen sind bei deren Bücher besser planbar.
Seine typische Unempfänglichkeit für die Anforderungen persönlichen Ruhms, die sich wie gesehen an verschiedensten Details beobachten lässt, hat für Mario Bunges Werk und dessen besondere Qualität allerdings entscheidende Vorteile:
Da Bunge wie gesehen für den »Sirenen-Gesang« des Ruhms – zumindest auf einem Ohr taub – zu sein scheint, bleibt ihm der mediale, äußere Einfluss durch die Öffentlichkeit auf die Gestaltung seines Werks erspart. Dieser Umstand kann als bedeutender Vorteil des Werks Mario Bunges betrachtet werden.
Immanuel Kant ist es bekanntlich anders gegangen. Er glaubte, mit der Kritik der reinen Vernunft die Existenz einer für die »Menschheit unentbehrlichen Erkenntnis« aufgedeckt zu haben, auf die »mit der Zeit auch Popularität folgen« (Kant 1783/1976, S. 8) sollte. Für die Erreichung der Popularität der Vernunftkritik war er bereit, erheblichen Aufwand zu treiben. Bereits direkt nach Erscheinen des Buchs war ihm klar, dass dieses Hauptwerk seines Lebens auf eingehendes Studium »nur bei sehr wenig Lesern gleich anfangs rechnen« könne (Kant in einem Brief an Marcus Herz am 11 Mai, 1781 – Kant 1972, S. 195).
Die Probleme mit der Popularisierung der Vernunft-Kritik waren sogar wesentlich größer als er diese erwartet hatte, denn ein Jahr lang erschien überhaupt keine Rezension. Und die erste, die in den »Göttingischen gelehrten Anzeigen« erschienene sogenannte »Göttinger Rezension«, erwies sich als ein von zwei populär-philosophischen Autoren zusammengestückter Verriss der Kritik der reinen Vernunft. Kant musste einsehen, dass das sich dabei zeigende Unverständnis zumindest teilweise »von der Weitläufigkeit des Plans« seiner Vernunftkritik herrührte, also von ihm selbst verschuldet war (Kant 1976, S. 8). In der Folge setzte er viel Kraft darein, für Abhilfe zu sorgen. Kant verfasste zu diesem Zweck einen Erläuterungsband zur Vernunftkritik – die sogenannte »Prolegomena« (Kant 1783/1976).
Anschließend überarbeitete er die erste, bereits im Jahr 1781 erschienene Ausgabe der Kritik umfassend. Die zweite Ausgabe erschien im Jahr 1787, und schließlich erweiterte Kant sein kritisches Projekt um zwei weitere Bände, um so das möglichst umfassende Verständnis seiner Leser zu begünstigen – um die Kritik der praktischen Vernunft und um die Kritik der Urteilskraft. Geopfert hat Kant durch die damit verbundene zeitliche Investition – im Tausch mit dem schließlich erreichten Ruhm seiner Kritiken – seinen Plan der Erstellung einer Naturphilosophie, zu deren Vollendung die verbleibende Arbeitskraft bis zu seinem Ableben im Jahr 1804 nicht mehr ausreichte: In seinem Nachlass – dem sogenannten Opus postumum – findet sich lediglich ein ungeordneter Wust von naturphilosophischen Notizen.
Fazit: Der Intellektuelle, der sich für sein Werk Popularität wünscht und sich deshalb in die Obhut von Publizisten und Verlagen begeben muss, um seine Gedanken-Produktionen auf das Publikums-Verständnis auszurichten, »wird vom Gelehrten zum Publizisten, ohne dass er es selbst merkt« (Schelsky 1965, S. 324). – Der Soziologe Helmut Schelsky hat bei seinen Untersuchungen zum Einfluss von Publizistik auf die Arbeit von Intellektuellen auf diese Gefahr hingewiesen: Dieser gewandelte Intellektuelle laufe Gefahr, zum »Funktionär« und »Sklaven« seines eigenen publizistischen Erfolgs zu werden. Schelsky zieht den Schluss, dass die Prominenz zur gefährlichsten Bedrohung eines schöpferischen Menschen werden kann, dem dieser allerdings durch »Unterlaufen der Publizistik« entkommen könne (Schelsky 1975).
Mario Bunge ist dieses »Unterlaufen der Publizistik« gut gelungen. Bis kurz vor seinem Tod folgte er konzentriert seinem eigenen Forschungsprogramm. Bereits die Bände und die thematische Struktur seines Hauptwerks Treatise on Basic Philosophy hatte er von Beginn an geplant. Zwar war er Anfang der 1970er Jahre von sieben Bänden ausgegangen, die in sieben Jahren geschrieben werden sollten, um die zusammenhängenden philosophischen Probleme aus einer integrierten Perspektive anzugehen. Stattdessen wurden es dann neun Bände, die er zwischen den Jahren 1974 bis 1987, also innerhalb von 13 Jahren schrieb. Und schließlich ergänzte er mit Political Philosophy ein Buch, das er als zehnten Band seines Hauptwerks verstanden wissen will (Bunge 2016, S. 226). Die Abweichung vom Ursprungsplan ist anders als im Fall von Kants Kritiken kein Tribut an die Verständnisfähigkeit oder Akzeptanz des Publikums, sondern ergab sich dadurch, dass seine Überlegungen in den Details ergaben, dass manche Problemlösungen mehr Raum erfordern, als ursprünglich gedacht.
Interessanter Nebeneffekt: Dadurch, dass Bunge in der Lage war, das Verfassen seines Hauptwerks recht genau zu planen, war es ihm vergönnt, eine Autobiografie zu schreiben – zunächst in spanischer, danach in englischer Sprache – und so sein eigener Chronist zu werden. – Immanuel Kant war dies nicht gelungen. Dass sich heute das Philosophen-Publikum Kant als einen übertrieben disziplinierten Mann vorstellt, »der nach der Uhr lebte«, geht auf einseitige Darstellungen von Zeitgenossen zurück, die ihn vor allem als Greis kannten (Kuehn 2001). Hätte Kant ebenfalls mehr Zeit eingeplant für eine authentische Selbstdarstellung, wäre ihm wahrscheinlich erspart geblieben, heute im Bewusstsein der Nachwelt als zwangsneurotische Karikatur eines Philosophen zu erscheinen.
Intellektuelle übernehmen Rollen in öffentlich inszenierten Dramen.
Wer den Status eines »public intellectuals« anstrebt, geht für sich und sein Werk offenbar Risiken ein. Doch die damit verbundenen Gefährdungen gehen weiter: PIs, die danach drängen, eine öffentliche Rolle zu spielen, bewegen sich in einem gesellschaftlichen Feld, in dem sie Anteil nehmen an Prozessen, die mit Risiken für weite Bevölkerungs-Kreise verbunden sein können. Darauf hat der im Jahr 1929 als Werner Falk in Köln am Rhein geborene, frühzeitig angesichts der heranbrechenden Nazizeit mit seinen Eltern emigrierte US-amerikanische Soziologe Amitai Etzioni hingewiesen, der umfassende, jahrzehntelange Erfahrungen als »sometime-public intellectual« sammeln konnte (Etzioni 2003). Er war zeitweise Berater des amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter und gilt mit Blick auf seinen Kommutarismus als »geistiger Inspirator« des englischen Premierministers Tony Blair.
Etzioni berichtet darüber, dass er aufgrund dieser erfolgreichen Karriere als »public intellectual« häufig von Kollegen um Rat gebeten wird. Diese Wissenschaftler streben an, ebenfalls erfolgreiche PIs zu werden, und bitten um Einsicht in Etzioni’s PI-Know-how. Sie wünschen gezielte Tipps, denn sie träumen davon, irgendwann einmal eingeladen zu werden, in einer renommierten, landesweit erscheinenden Tageszeitung einen bedeutenden, die Mächtigen des Landes aufrüttelnden Kommentar zu veröffentlichen.
Amitai Etzioni verrät, dass er selbst auch von ähnlichen Ruhmes-Visionen angetrieben war. Er dachte dabei an den berühmten offenen Brief des Schriftstellers Émile Zola vom 13. Januar 1898 in der Tageszeitung L’Aurore an den damaligen Präsidenten der Französischen Republik – ein ganzseitiger Artikel auf der Titelseite, durch den die Klärung der berühmten Dreyfus-Affaire eingeleitet wurde.
Etzioni gab den Nachfragen seiner Intellektuellen-Kollegen nach und formuliert Regeln für das Vorgehen erfolgreicher, medienwirksamer PIs. Dazu erläutert er einige wesentliche Zusammenhänge:
Rund um das Auftreten öffentlicher Intellektueller gibt es in der Betrachtung des Publikums auf der einen Seite und der intellektuellen Akteure auf der anderen Seite eine komplementäre Illusion darüber, welche sozialen Mechanismen ablaufen, wenn Massenmedien Meinungsäußerungen öffentlich inszenieren.
So herrscht beim Publikum angesichts des Auftretens von PIs die Illusion vor, Zeugen des Erscheinens einer außeralltäglich kompetenten Persönlichkeit zu werden, die über gewisse prophetische Gaben zu verfügen scheint. Passend dazu sehen sich auf der anderen Seite die öffentlich auftretenden Intellektuellen als Persönlichkeiten, die durch ihre mutige Äußerung und ihre Kompetenz einen allseits geschätzten positiven Einfluss auf Entwicklungen des Landes nehmen können.
Amitai Etzioni räumt mit diesen ineinander spielenden Illusionen auf, indem er die ihn um Rat bittenden Ruhmes-Interessenten mit den Hintergründen relevanter Meinungs-Bildungsprozesse im Rahmen des Auftretens von PI‹s konfrontiert:
Das Erscheinen von Intellektuellen in der Öffentlichkeit ist ein Vorgang, der maßgeblich von den Massenmedien selber gestaltet wird. Zwar ist das individuelle Interesse eines Intellektuellen – zumindest sein Einverständnis, sich öffentlich darzustellen – hierfür eine Grundvoraussetzung. Doch reicht dieser Wunsch nach Selbstdarstellung nicht aus. Stattdessen werden PIs als Akteure von den Massenmedien systematisch aufgebaut und für ihre Rolle in den Medien gezielt »sozialisiert«.
Im Vorfeld halten Vertreter der Medien kontinuierlich nach Personen Ausschau, welche die Rolle eines öffentlichen Intellektuellen bei einer passenden Gelegenheit spielen könnten. Dazu verfolgen Redakteure die Berichterstattung in wissenschaftlichen Fachmedien und werten die Resonanz von Beiträgen aus. Tritt bei wissenschaftlichen Events wie Kongressen eine Person hervor, die sich profilieren konnte und die über die entsprechende Kommunikations-Fähigkeit verfügt, ausreichend telegen ist und verspricht, interessante Sachverhalte authentisch – pointiert und deutlich – zu repräsentieren, findet eine Vorauswahl dieses Wissenschaftlers statt.
Anschließend wird dieser ausgewählte Intellektuelle zunächst bei kleineren medialen Anlässen auf die Probe gestellt – etwa zu einem Thema vor laufender Kamera befragt, bei Vorträgen gefilmt usw. Zug um Zug werden ihm größere mediale Auftritte und Rollen zugemutet.
Diese Rollen gehören dabei zu einem »Drehbuch« einer Inszenierung, das die Medien und keineswegs die jeweiligen Intellektuellen bzw. Wissenschaftler vorgeben. Denn die im Laufe der Zeit Prominenz gewinnende öffentliche Person hat aus dem Blickwinkel der Medien die Funktion, möglichst erfolgreich die Aufmerksamkeit von Medienkonsumenten zu gewinnen und zu binden. Die zuständigen Redakteure achten bei ihren Inszenierungen der Auftritte der ausgewählten Intellektuellen darauf, dass diese nicht als Personen zum zentralen Inhalt werden oder sogar die thematische Gestaltung von Sendungen übernehmen.
Etzioni beschreibt, wie PIs in der Dramaturgie der Medien zwar eine Hauptrolle spielen können, wobei der Ablauf der in Szene gesetzten Handlung von Anfang an von Redakteuren vorgegeben ist. PIs ist die Rolle zugedacht, im Rahmen der Diskussion eines aktuellen Themas eine von mehreren konträren Haltungen zu repräsentieren. Ein öffentlicher Intellektueller erfüllt in diesem in Szene gesetzten »Drama« die Erwartungen von Medienvertretern umso besser, je deutlicher er eine These bzw. eine Antithese gegenüber anderen Personen vertritt, er also gut planbar in verschiedensten medialen Formaten als »diskursiver Kampfhahn« eingesetzt werden kann.
So lange es einem Intellektuellen gelingt, diese Diskurs-Rolle auf eine für das Publikum interessante und fesselnde Weise zu spielen, wird er von einer zur anderen Sendung oder Veröffentlichung weiter berücksichtigt.
Nach einiger Zeit lässt die Zugkraft öffentlicher Intellektueller beim Publikum erfahrungsgemäß nach. Dann ist der Augenblick gekommen, dass diese Persönlichkeit von den Redakteuren aus ihrem »öffentlichen Amt« genommen und durch einen »Nachfolger« ersetzt wird.
Etzioni erläutert, dass PIs in diesem Prozess Gefahr laufen, gegen ihre fachlichen Standards zu verstoßen und dadurch ihre Glaubwürdigkeit als Wissenschaftler einzubüßen:
PIs müssen Vieles von dem, was Qualitätsmerkmale ihrer Arbeit als Intellektuelle sind, beiseitelassen – etwa das differenzierte Argumentieren, das überzeugende Belegen von Behauptungen durch Fakten –, weil ihre Beiträge ansonsten nicht »allgemeinverständlich« genug sind und schlecht in massenmediale Formate passen. Sie müssen meist eine undifferenziert einseitige Stimme ertönen, sich in eine »Schublade packen« lassen, entweder schwarz oder weiß sein, als »Rechter« oder »Linker« auftreten, die Erfordernisse des Marktes und Profitinteressen uneingeschränkt befürworten oder uneingeschränkt verdammen usw. – differenzierte Zwischenpositionen passen nicht ins Programm. Weil sie sich auf diese Weise gezwungenermaßen von ihren fachlichen Standards entfernen müssen, wenn sie öffentlich auftreten, erhalten PIs daher keinen Beifall aus dem eigenen Fach, sondern werden stattdessen aus dieser Richtung kritisiert (Posner 2003, S. 399).
Wissenschaftler übernehmen in der öffentlichen Diskussion oft Opferrollen.
Allerdings gehen die Risiken, die Intellektuelle mit ihrem Rollen-Spiel als PIs verursachen, wesentlich weiter. Probleme basieren nicht allein darauf, dass Intellektuelle den eigenen fachlichen Ruhm gefährden, wie Etzioni dies beschreibt. Die Handlungsfähigkeit in wichtigen politischen Entscheidungs-Situationen innerhalb einer Gesellschaft kann dadurch eingeschränkt werden.
In ihrem vielbeachteten gemeinsamen Buch Merchants of Doubt zeigen die Wissenschaftshistoriker Naomi Oreskes und Erik Conway, wie ein kleiner, einflussreicher Kreis von Intellektuellen für öffentliche Auftritte als PIs »angeheuert« wurde, um wichtige politische Entscheidungen zu verhindern (Oreskes & Conway 2010). Wissenschaftler, die sich in ihrer früheren Karriere Renommee angeeignet hatten, übernahmen die Rolle, ihre Bekanntheit zu nutzen, um bei den Themen Gesundheitsschädlichkeit des Rauchens oder der Erwärmung der Erdatmosphäre zu behaupten, die zuständigen Wissenschaften hätten keine entscheidungsrelevanten Fakten ermitteln können.
Naomi Oreskes und Erik Conway beobachten, dass Intellektuelle aus den empirischen Wissenschaften große Probleme haben, mit den typischen einseitigen und sachfremden Inszenierungen in den Massenmedien fertig zu werden. Durch ihre Selbstverpflichtung auf Sachkenntnis und Objektivität befinden sie sich in einer heiklen Lage, wenn es darum geht, als PIs öffentlich aufzutreten und falschen Behauptungen zu widersprechen.
Der in der Öffentlichkeit durch gewisse Wortführer stetig genährte Grundverdacht, Wissenschaftler verfolgten insgeheim ideologische oder politische Interessen, führt bei ihnen zu einem Zustand der Einschüchterung. Sie haben Angst davor, ihnen könnte vorgeworfen werden, sie hätten ihre fachliche Objektivität verloren. Deshalb neigen sie dazu, sich herauszuhalten, wenn beispielsweise die Klimaerwärmung und ihre schädlichen Auswirkungen öffentlich diskutiert werden. Insgeheim hoffen sie auf die sich selbst verwirklichende Kraft der Wahrheit:
Forscher sehen es zwar als ihre Aufgabe an, herauszufinden, was wahr ist. Wird demgegenüber irgendwo in der Öffentlichkeit Unsinn verbreitet, glauben sie, es müsste sich jemand anderer darum kümmern, was häufig aber nicht geschieht.
Aufgrund dieser Einstellung sind Wissenschaftler unter anderem eine leichte Beute politischer und wirtschaftlicher Manager, die den Tatbestand der sogenannten „anthropogenen“ globalen Erwärmung unserer Atmosphäre leugnen. Trotz grundlegender, durch Forschung bestens gesicherter Erkenntnisse der Klimaforschung gelingt es diesen »Klimaskeptikern« ohne großen Widerspruch, den menschlichen Ursprung der schnell voranschreitenden Klimaveränderung in Zweifel zu ziehen. Dazu brauchen sie lediglich ihnen »gewogene« PIs öffentlich behaupten zu lassen, die Wissenschaft wäre sich nicht einig über die negativen Klimafolgen gesteigerter Kohlendioxid-Emissionen.
Der Kampf gegen Anti-Wissenschaftler und Pseudo-Wissenschaftler
Wie gesehen orientiert sich Mario Bunge mit seinem Philosophie-Konzept an den Standards erfolgreicher empirischer Wissenschaften. Dennoch ist er als Intellektueller keineswegs ebenfalls eine »leichte Beute« der beschriebenen Fakten-Manipulierer geworden. Zu Beginn dieses Beitrags haben wir bereits gesehen, dass Mario Bunge Fehlinterpretationen von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen in seinem Werk scharf widerspricht. Einige seine Reaktionen zum öffentlichen Umgang mit dem Thema »Klimaerwärmung« wurden erwähnt.
Die Kritik an öffentlichen verfälschenden Interpretationen von Wissenschaft ist in Mario Bunges Werk ein ständig auftauchendes Motiv. In großer thematischer Vielfalt griff er bevorzugt die von Massenmedien aufgebauten »Lieblings-Denker und -Autoren« auf, um sie zu »demontieren« und an ihnen sein philosophisches Konzept abzuarbeiten.
Seine Kritik verfolgte dabei eine Grundstrategie, die sich auf die Diskussion der Beiträge von Intellektuellen zweier grundlegender Richtungen konzentrierte. Ähnlich wie Baron Charles Percy Snow in seinem berühmt gewordenen Vortrag im Frühjahr 1959 (Snow 1959/1998), unterscheidet Mario Bunge zwei »Intellektuellen-Kulturen«, auf die er sich als Rezensent fokussiert:
Zum einen die »literarisch« orientierten Intellektuellen – zum anderen Intellektuelle, die als Nutznießer der Ergebnisse der erfolgreichen modernen Wissenschaften auftreten.
Aus Bunges Sicht sind Vertretern beider »Kulturen« für von Massenmedien populär gemachte Beiträge verantwortlich, welche die Ergebnisse empirischer Wissenschaften falsch interpretieren und dadurch die Möglichkeiten behindern, wichtige Erkenntnisse zukünftig für die Verbesserung der Lage der Menschheit zu nutzen(Bunge 2017, S. 137-59).
Mario Bunge investierte in seinem Werk viel Raum und kritische Argumentation, um sich von diesen beiden, große öffentliche Resonanz erzielenden intellektuellen Gruppen zu distanzieren:
- von Anti-Wissenschaftlern und Anti-Realisten – von Intellektuellen, die die Moderne und die damit verbundene wissenschaftliche Revolution ad absurdum führen möchten.
- von Pseudo-wissenschaftlichen Provokateuren und Zynikern – Intellektuelle, die den Wert von bestimmten Theorien, vermeintlich wissenschaftlichen, häufig reduktionistischen Ansätzen überschätzen, aus wissenschaftlichen Befunden unhaltbare und wissenschaftsphilosophisch unreflektierte Schlussfolgerungen ziehen.
Zu den Anti-Wissenschaftlern und Anti-Realisten, die Bunge regelmäßig in seinen Veröffentlichungen teilweise detailreich kritisiert, gehören beispielsweise Edmund Husserl und seine Phänomenologie, Friedrich Nietzsche und seine Anti-Ethik, Thomas S. Kuhn und sein Konzept wissenschaftlicher Revolutionen, Paul Feyerabend und seine anarchistische Wissenschaftstheorie, Jürgen Habermas und sein Konzept von Wissenschaft und Technologie, Martin Heidegger und seine Fundamentalontologie, Paul-Michel Foucault und sein Poststrukturalismus.
Bunge scheute sich nicht, mit diesen Autoren hart ins Gericht zu gehen: Heidegger zum Beispiel war seiner Meinung nach „einer der schädlichsten Scharlatane seiner Zeit“ (Bunge 2016, S. 218), der als “ Kulturverbrecher“ (Bunge 2016, S. 209) bezeichnet werden sollte.
Zu den populären pseudo-wissenschaftlichen »Provokationen«, die er sich vornimmt, gehört die its-fom-bits-Physik mit ihrer digitalen Ontologie, die many-world-Kosmologie, Richard Dawkins genetischer Determinismus und sein meme-Konzept, Noam Chomskys Nativismus, John Carew Eccles und sein psychokinetisches Gehirn, Karl Raimund Popper, dessen Falsifikationismus und idealistische Drei-Welten-Lehre, Ernst Mach und sein Phänomenalismus oder Sigmund Freud und seine Psychoanalyse.
Bunge zeigt sich angesichts der Operationsweisen von öffentlichen Intellektuellen geradezu als Anti-PI und Opponent der PI-Kultur, die von Massenmedien der breiten Bevölkerung gegenüber inszeniert wird.
Es ist das Problem der zwei Kulturen – der fehlende Austausch, die wechselseitige Überheblichkeit, die letztlich verhindert, dass das bestmögliche Wissen Eingang findet in die Planung von Vorgehensweisen zur Bewältigung aktueller Krisen – das Bunge im Rahmen seines Werkes herausgearbeitet hat.
Es ist die Aufgabe nachfolgender Generationen, möglichst zügig Lösungen zu finden und zu implementieren.
Epilog – Nachbetrachtung
Mario Bunge griff meinen Hinweis auf Baron Charles Percy Snows Vortrag von 1959 übrigens auf. Er spricht dabei sinnbildlich von der “Aufklärer-Mannschaft”, welche zukünftig die Aufgabe hat, uns in der tiefdunklen Höhle des Unwissens den rechten Weg zu weisen und dabei unversehens an „zwei Fronten“ kämpfen muss (Matthews 2019, S. VII):
„(…) the enlightened crew has to fight on two fronts: the internal one of mostly honest but naïve torchbearers, and the external one bent on hoarding us back into the dark cave.”
„(…) die Aufklärungs-Crew muss an zwei Fronten kämpfen: an der inneren, bestehend aus meist ehrlichen, aber naiven Fackelträgern, und an der äußeren, gegen diejenigen, die darauf aus sind, uns zurück in die dunkle Höhle zu hetzen.“ (Übersetzung hd)
Mario Bunge starb hundertjährig Anfang 2020 – kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Bis zu seinem Tod war er höchst produktiv. Wer mit ihm per Email korrespondierte, wurde von ihm per Dokumentenanhang mit seinen aktuellen Aufsätzen und Buchkapiteln versorgt. Als ich im Herbst 2019 meinen letzten Austausch mit ihm hatte, hängte er seiner Email drei seiner aktuellen Texte an: Ein Aufsatz zur Kritik an Pseudo-Wissenschaften („The dematerialization crusade“), zwei weitere zu wissenschaftstheoretischen Themen („Inverse Problems“ und „Chance“).
Im Laufe seines Lebens hat Mario Bunge 150 Bücher (einschließlich überarbeiteter Ausgaben und Übersetzungen) und 540 Artikel (einschließlich Übersetzungen) veröffentlicht.
Mario Bunge war am 21. September 1919 in Argentinien geboren worden. Väterlicherseits stammte seine Familie aus Westfalen – seine Mutter Maria kam aus Niedersachsen, aus der Nähe von Hannover; nach Argentinien gelangte sie als Krankenschwester des Roten Kreuzes.
Bunge hatte Lehrstühle für Physik und Philosophie an Universitäten in Argentinien (Universität Buenos Aires, Universidad Nacional de La Plata) und übernahm Lehraufträge in den USA (University of Texas, University of Delaware, University of Pennsylvania und Temple University) inne, bevor er 1966 als Professor für Philosophie an die McGill University in Montreal berufen wurde.
Diesen Lehrstuhl musste er 2009 „zwangsweise“ räumen – die Provinz Quebec erlaubt es Universitätsangehörigen nicht, über ihren 90. Geburtstag hinaus zu lehren.
Er absolvierte Gastprofessuren an großen Universitäten in Europa, Australasien sowie Nord- und Südamerika. Er hat viele angesehene Stipendien und Preise erhalten: Humbolt-, Guggenheim- und Killam-Stipendien – außerdem war er Prinz von Asturien-Preisträger.
Bunge war zweifellos einer der versiertesten, sachkundigsten und vielseitigsten Wissenschaftsphilosophen der Moderne. Er ist einer von nur zwei Philosophen in der Science Hall of Fame der American Association for the Advancement of Science: Er teilt sich dieses Privileg mit Bertrand Russell.
Über Russell schreibt Bunge übrigens, „als Teenager habe ich mich in die Philosophie verliebt, als ich Bertrand Russells Probleme der Philosophie las“ (Bunge 2016, S. 43).
In seiner 500-seitigen Autobiografie Between Two Worlds: Memoirs of a Philosopher-Scientist (Bunge 2016) gibt Bunge einen Überblick über sein eigenes Leben und Werk. Die „Zwei Welten“ im Titel stehen sowohl für die disziplinären Welten der Physik und Philosophie als auch für die kulturellen Welten Lateinamerikas und Nordamerikas. Aufschlussreich ist, dass der Namensindex des Buches etwa 1.200 Einträge enthält; die überwältigende Mehrheit davon sind Menschen, die Bunge während seines langen und produktiven Lebens getroffen und mit denen er korrespondiert hat; es handelt sich um ein „Who is Who“ der zeitgenössischen empirischen Wissenschaften, Sozialwissenschaften und Philosophien: u.a. Albert Einstein – Physiker, Schöpfer der beiden Relativitätstheorien – , Werner Heisenberg – Entwickler der ersten mathematischen Formulierung der Quantenmechanik, Francis Crick – einer der Entdecker der Molekularstruktur der DNS, Robert K. Merton – Soziologe -, Jean Piaget – Pionier der Entwicklungs-Psychologie, Donald O. Hebb – Pionier der kognitiven Psychobiologie – , Hans Albert – Soziologe und Philosoph
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