Kreativität für Kommunikation – Workshop Teil 2
Bewegliche Gehirne erforderlich!
Im vorhergehenden Beitrag habe ich auf der Basis von Agentur- und Projekterfahrungen sowie aufgrund von Diskussionen mit Kommunikations-Fachleuten ein paar Hintergründe zum Umgang mit kreativen »Kommunikationslösungen« erläutert – vorläufiges Fazit:
Kreativität ist ohne spezielle eingeübte Herangehensweisen und Kompetenzen kaum erreichbar.
Was im Einzelnen dahintersteckt, wird in diesem und weiteren Blog-Posts präsentiert.
Als nächster Schritt dieser »Kreativitäts-Serie« komme ich zunächst zu einer »Theorie« kreativen Denkens.
Aus meiner Sicht ist es so:
Wer nicht weiss, wie unser Denken funktioniert und welche Rolle Interaktions-Prozesse in Teams funktionieren, hat kaum eine Chance in seinem Umfeld tatsächlich kreative Dinge zu entwickeln und umzusetzen.
Mini-Theorie der Kreativität
Klären wir ein paar Begriffe:
Hinter dem Begriff einer »kreativen Lösung« steckt unsere Vorstellung von einer »radikalen Innovation« bzw. das Konzept des »Schaffens von etwas Neuem aus dem Nichts«. Eine Person ist erst dann im wahrsten Sinne ein »Kreativer«, wenn sie tatsächlich »kreiert«, also bisher Ungedachtes, Beispielloses produziert.
Dieses Kreativitäts-Konzept ist historisch betrachtet ein »Produkt« der Moderne.
Religionen und Kosmologien kennen diesen modernen Schaffens-Begriff nicht. So schafften beispielsweise die antiken Götter der Griechen keine Welten, sondern organisierten bisheriges Chaos und formlose Materie oder zerstörten organisierte Strukturen, lösten Ordnungen auf – je nach besonderem Charakterzug der gerade aktiven Gottheit.
Auch in der Genesis der Heiligen Schrift ist Gott Jahwe in seiner Schöpfungswoche vor allem mit dem Ordnen, Strukturieren und Fortentwickeln einer Substanz beschäftigt, die bereits zum Beginn des Schöpfungsakts zur göttlichen Überarbeitung vorliegt. Jahwe kam ohne »Big Bang« nicht zu Potte – trotz aller Allmacht …
Die Interpretation von Kreativität als radikale Innovation, als Schaffen von wirklich Neuem war dem menschlichen Denken historisch betrachtet also nicht von Anbeginn präsent. Das könnte uns daran zweifeln lassen, dass der Begriff tatsächlich sinnvoll ist.
Schließlich sind auch erfolgreiche kreative Menschen der Vorstellung des radikal Neuen gegenüber skeptisch. Sie sprechen in der Regel nicht davon, sie hätten Ideen erfunden. Wissenschaftler meinen stattdessen oft bescheiden, sie hätten ihre Theorien lediglich »entdeckt« oder hätten lediglich Gedanken von anderen aufgegriffen und in eine neue Perspektive gebracht. So schrieb beispielsweise Sir Isaac Newton (*25.12.1642 – +20.03.1726), der Schöpfer der klassischen Physik, in einem Brief »If I have seen further it is by standing on ye sholders of Giants.« (»Wenn ich weiter geblickt habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe.«)
Nicht voraussetzungslos und dennoch originell
Sicherlich gibt es um uns herum einen kontinuierlichen Fluss von durch Menschen erdachter Neuheiten beispielsweise in Wissenschaft und Technologie. Dabei gehen diesen Neuheiten stets andere Dinge und Prozesse voraus – sie sind nicht voraussetzungslos. Neuheiten greifen so gesehen auf eine Geschichte älterer Errungenschaften zurück. Dennoch lässt sich der Kern einer Innovation nicht vollständig aus dem Vorhergegangenen erklären. Es ist stets etwas Noch-nie-Dagewesenes, Originelles daran, das aus dem Nichts gekommen zu sein scheint.
Beispiele für Kreativität
Viele dieser Innovationen und Neuheiten betreffen Details, die keine größere Beachtung erlangen; viele treten plötzlich auf, manche sind kurzlebig und geraten schnell in Vergessenheit.
Ein paar Beispiele für Kreativität sind:
- der Poet, der eine menschliche Erfahrung auf eine neue Art beschreibt
- der Romanschreiber, der eine neue Romanfigur entwirft
- der Mathematiker, der eine neue mathematische Struktur entwirft oder aus bereits bekannten Prämissen neue Konsequenzen ableitet
- Politiker oder Verwaltungsexperten, die neue Gesetze und Verordnungen entwerfen, die bestehende soziale Probleme lösen und/oder häufig neue soziale Problem entstehen lassen
- Kommunikations-Experten, die neue Kommunikations-Prozesse und -Mechanismen entwerfen, die Meinungsbildungen bewirken und neue Interaktions-Systeme entstehen lassen
Diese Beispiele haben gemeinsam, dass es um von Menschen gemachte Dinge geht, die in der »Natur« nicht vorkommen. Sie sind Ergebnis absichtsvoller Handlungen, auch wenn ihnen nicht immer sorgfältige Planungen zugrunde liegen. Sie kommen nicht »rein zufällig« zustande, obwohl Zufälle bei ihrem Auftreten eine gewisse Rolle spielen können. Sie sind stets in der einen oder anderen Beziehung als einzigartig zu beurteilen. Sie »bereichern« die Welt mit etwas Neuem, das vor dem kreativen Akt nicht existierte.
Unterschiedliche »Qualitäten« kreativer Leistungen
Bei genauer Betrachtung können kreative Produkte unterschiedliche Qualität haben. Vor allem erreichen sie unterschiedliche Grade der Originalität.
Manche kreativen Leistungen mit besonders hoher Originalität werden Ausgangspunkt einer neuen Produkt-Art oder -Kategorie. Der erfolgreiche Torschuss eines bekannten Stürmers mag ein neues, kreatives Faktum sein. Er stellt aber keine neue Klasse von Tatbeständen dar. Anders ist der Fall bei einer neuen wissenschaftlichen Theorie, dem Design eines neuen wissenschaftlichen Experiments, der Erfindung einer neuen Art von Sozial-Verhalten oder einer neuen Art, Beziehungs-Netzwerke zu knüpfen und darin zu kommunizieren. Dies sind Beispiele für die kreative Erfindung neuer »Produkt-Spezies« also für »absolute Kreationen«.
Wie kommen solche absoluten Kreationen zustande? Welcher Mechanismus ist für den dahinter liegenden kreativen Prozess verantwortlich?
Die Antwort auf diese Fragen finden wir nicht in psychologischen Theorieansätzen wie beispielsweise dem Behaviorismus, der Denkprozesse als Faktoren unseres Verhaltens vollständig ignoriert.
Auch die im Zusammenhang mit Kreativität von manchen Autoren bemühte, ansonsten aus der Mode gekommene Gestaltpsychologie hat keine empirisch-wissenschaftlich gültigen Erklärungen kreativer Prozesse geschaffen. Die von ihr zur Sprache gebrachten kreativen Assoziations- und Wahrnehmungsgesetze sind nicht nur zu unpräzise, sondern inzwischen durch neurophysiologische Forschung detailreich widerlegt. (1)
Apropos Neurophysiologie: Können uns Ergebnisse einer neurophysiologischen Psychologie bei der Klärung der Kreativität weiterhelfen? Tatsächlich – hier gibt es ein Forschungsprojekt, an das wir anknüpfen können:
Aus der Perspektive dieser Psychologie ist der kreative mentale Akt nichts anderes als ein Denkprozess, denn jedem mentalen Prozess liegt ein Hirnprozess zugrunde.
Kreativität basiert auf neuronalen Netzwerken.
Der kreative mentale Prozess hat aus dieser Perspektive allerdings eine entscheidende Besonderheit – er stellt sich als neuronaler Selbstorganisationsprozess dar, durch den ein neues plastisches System von Neuronen entsteht.
Ohne ins Detail zu gehen, vergegenwärtigen wir uns für die folgenden Überlegungen ein paar Stichworte zum Themenkomplex »plastische neuronale Systeme«:
Eine Verbindung zwischen zwei Nervenzellen – Neuronen – wird als plastisch bezeichnet, wenn sich diese Bindung dauerhaft verändern kann, insbesondere wenn sie eine neue stabile Verbundenheit entwickeln kann. Unter neuronaler Plastizität wird die Eigenschaft von Kontaktstellen zwischen Nervenzellen – den Synapsen -, Neuronen oder auch ganzen Hirnarealen verstanden, sich in Abhängigkeit von Hirnprozessen in ihren Eigenschaften zu verändern. In diesem Zusammenhang wird auch von synaptischer Plastizität bzw. kortikaler Plastizität gesprochen.
Aus der Perspektive der neurophysiologischen Psychologie liegt einer absoluten Kreation die Bildung eines neuen plastischen neuronalen Systems zugrunde. Neue Gedanken, Ideen und darauf aufbauende neue Problemlösungen erfordern die Ausprägung komplexer neuer Nervenverknüpfungen eines plastischen Gehirns.
Aus dieser Einsicht können wir nun bereits einige Annahmen ableiten:
Wir nehmen an, dass eine Kreation absolut oder radikal ist, dann und nur dann, wenn das korrespondierende plastische neuronale System in der Geschichte des Universums zum ersten Mal auftritt – also ohne entsprechende Vorläufer ist.
Kreativität braucht plastische Nervensysteme.
Daraus können wir schlussfolgern:
Ohne plastische Nervensysteme gibt es keine Kreativität – Menschen sind kreativ. Wesen mit fest »verdrahteten« Nervenverbindungen sind nicht kreativ. Maschinen, die über entsprechend fest verdrahtete Informations-Kanäle verfügen, sind ebenfalls nicht kreativ.
Da wir weder einen Zugang zum ganzen Universum noch einen lückenlosen Überblick über die gesamte menschliche Geschichte haben, können wir niemals sicher sein, dass eine vorliegende Kreation tatsächlich absolut oder radikal ist.
Bereiten wir ein wenig auf, was wir mit dieser Minitheorie absoluter Kreation ermittelt haben:
- Wenn ein Wesen, wie etwa ein Mensch, etwas Neues erdenkt, dann liegt das daran, dass in seinem Hirn ein neues System von Neuronen entweder spontan oder durch eine externe Stimulation emergierte.
- Wenn zwei Personen unabhängig voneinander dieselbe Idee bilden, dann liegt das daran, dass sie auf der Basis ähnlicher Erfahrungen am selben Problem gearbeitet haben. Hierdurch erklären sich simultane Entdeckungen und Erfindungen sowie das parallele Auftreten von einzigartigen Innovationen bei verschiedenen Personen an unterschiedlichen Orten.
- Diese Erklärung von Kreativität als selbstorganisierender Prozess neuronaler Systeme ist zugegebenermaßen nur skizzenhaft. Es fehlt noch die detaillierte und präzise experimentelle Bestätigung.
Wir benötigen irgendwann eine detaillierte Theorie neuronaler Plastizität und insbesondere derjenigen Art von Plastizität, die Kreativität ermöglicht.
Wie sich gleich zeigen wird, reicht für unsere Zwecke die vorliegende Theorie aus, wenn wir diese mit weiteren Theorien und Technologien verknüpfen.
Kreativität braucht plastische Sozialsysteme.
Einen wichtigen Punkt müssen wir direkt an dieser Stelle ergänzen. Denn die Erklärung mentaler Kreation als Emergenz neuer Neuronen-Vernetzungen ist nicht hinreichend. Diese Vernetzungen finden in Hirnen von Einzelpersonen statt, die sich im Einflussbereich anderer Individuen und Gruppen aufhalten. Es ist offenbar entscheidend, dass in einer vollständigen »neuronalen« Theorie der Kreativität die Beziehungen zwischen dieser »sozialen Matrix« und der Persönlichkeitsebene berücksichtigt werden. Der Grund dafür liegt in Beobachtungen, die belegen, dass diese soziale Matrix einen entscheidenden Einfluss auf das Auftreten und den Erfolg von absoluten Kreationen hat.
Konservative Gruppen, die mit Neuheiten konfrontiert werden, reagieren mit Misstrauen und behindern deren Ausbreiten durch vielerlei Repressionen.
Anpassungsbereite, »plastische« Gruppenkonstellationen haben eine entgegengesetzte Wirkung, indem Gruppenmitglieder Neuheiten und persönliche Initiative positiv sanktionieren, um die Entwicklung von Innovationen zu begünstigen.
Erfolgreiche Kreativität setzt also neben plastischen Gehirnen eine plastische Gruppenstruktur voraus.
Vertiefen wir an dieser Stelle, was wir bereits über die Hintergründe des Entstehens kreativer Problemlösungen wissen:
Wir haben gelernt, dass das Auftreten von Kreativität auf gut ausgestattete Hirne beschränkt ist und dass die Gesellschaften und Gruppen, in denen die betreffenden »Hirnträger« wirken, das Auftreten von Innovationen verhindern, behindern, tolerieren und bestenfalls unterstützen können.
Im Zusammenhang mit kreativen Kommunikations-Konzeptionen wird häufig von »kreativem Computereinsatz« und von »kreativer Software« gesprochen. Um unser neues Wissen zu testen, beschäftigen wir uns einmal kurz mit dieser Vorstellung von »digitaler Kreativität«.
Erfindungen sind eine Domäne des menschlichen Geistes.
Computer können gut den »mechanischen« Teil des menschlichen Denkens übernehmen, insbesondere den »kopfrechnerischen« Teil des mathematischen Denkens.
Aber beim Identifizieren von neuen Problemen, dem Wagen von neuen Verallgemeinerungen, dem Erdenken von neuen Theorien und Konzepten, dem Herausfinden von neuen Prämissen, auf deren Basis neue Schlussfolgerungen gezogen werden, können Computer keinen selbst gesteuerten Beitrag leisten. Das Erfinden von neuen Methoden und Denkweisen bleibt die Domäne des menschlichen Gehirns und seiner Träger.
Computer können unsere Gehirne bei ihrer Arbeit unterstützen, aber sie können diese nicht ersetzen. Die Behauptung, es wäre möglich, kreative Computer zu designen, setzt voraus, dass wir über präzise Regeln für das Erfinden von Ideen verfügten. Aber die Idee einer »Kunst des Erfindens« – einer »ars inveniendi« – ist schon aufgrund der Definition falsch, die besagt, dass eine Erfindung etwas ist, das nicht dadurch entsteht, dass bereits bekannte Regeln angewendet werden.
Wenn wir eine Erfindung gemacht haben, können wir Regeln dafür erfinden, wie wir die dahintersteckende Problemlösung in Zukunft routinemäßig nutzen. Diese Regeln können anschließend dazu dienen, ein Programm zu schreiben, mit dem ein Computer oder ein Roboter »gefüttert« wird.
Zunächst erfolgt die Kreation, erst danach kommt die Routine! Also ist erst der Mensch mit seinem plastischen Hirn gefordert, etwas Neues entstehen zu lassen. Erst danach kann er mittels eines Computers die Neuheit »nachmodellieren« und in eine Routine, in einen Algorithmus verwandeln.
Kreativität ist nicht mysteriös
Ziehen wir ein vorläufiges Fazit:
Kreativität ist faszinierend aber nicht mysteriös. Sie kann mit dem Prinzip der Selbstorganisation von Neuronen erklärt werden, die neue Verbindungen, neue Neuronen-Netze entstehen lassen. Kreativität ist nicht das Ergebnis der Arbeit einer Maschine, da Maschinen dazu konstruiert sind, nach Regeln, gemäß Algorithmen zu arbeiten.
An dieser Stelle wollen wir die ethische Dimension von Kreativität nicht vergessen. Denn Kreationen und neue Problemlösungen sind für Betroffene nicht folgenlos. Bedürfnisse und Interessen von Gruppen sowie Individuen können dadurch tangiert werden.
Wir haben deshalb die Pflicht, beim Umgang mit Kreativität auf dessen Folgen zu achten und verantwortungsvoll vorzugehen. Anstrengungen, kreativ zu sein, sollten ermutigt werden – aber nur so lange sie nicht darauf abzielen, Dinge zu entwickeln, deren wesentliche Funktion darin besteht, die auf der Welt verbreitete menschliche Mühsal weiter zu vergrößern, statt diese zu verringern.(2)
Als nächstes erforderlich: Das kreative Team
Wie geht nun die “Kreativitäts-Serie” hier weiter?
In diesem Blog-Post haben wir uns eine Basis-Theorie der Kreativität angesehen.
Wir haben erkannt, dass kreative Ideen und deren Umsetzungen ein plastisches Gehirn voraussetzen. Plastizität und Operationsweisen sind eng verbunden mit Interaktionen in den Beziehungs-Netzwerken, in denen wir uns aufhalten und in denen wir nach kreativen Lösungen suchen.
Als nächstes schauen wir uns an, unter welchen Voraussetzungen Teams in Plattformen für kreative Lösungen verwandelt werden können. – Hier geht es weiter.
Anmerkungen
(1) Ein typisches akademisches Beispiel für den realitätsfernen Versuch, die überkommene und »tote« Gestaltpsychologie zu »reanimieren« (»Schematheorie«), ist:
- Bruhn, Manfred; Integrierte Unternehmens- und Markenkommunikation. Strategische Planung und operative Umsetzung; Stuttgart 2006, S. 36-51
(2) Details zum moralisch-ethischen Aspekt der Entwicklung von Kommunikations-Technologie finden sich hier:
- Droste, Heinz W.; Kommunikation: Planung und Gestaltung öffentlicher Meinung; Band 2: Mechanismen; Neuss 2011; S. 395-429