Mario Bunge im Interview – Die ganz großen Fragen
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21. September 2019 – der Philosoph und Physiker Mario Bunge wird 100
Rückschau – mein Interview mit Mario im Sommer 2013
Im Sommer des Jahres 2013 hatte ich Gelegenheit, Mario Bunge anhand eines umfangreichen Fragenpakets zu seiner realistischen Philosophie und zu dessen Hintergründen zu interviewen.
Bevor es gleich in die Aufzeichnung dieses Interviews geht, ist der Augenblick gekommen, die Person des Philosophen zumindest in wesentlichen Zügen vorzustellen.
Wer ist dieser Mario Augusto Bunge, über dessen Persönlichkeit wir bisher nicht viel mehr erfahren haben, als dass er im Jahr 1919 – genauer am 21. September 1919 – in Buenos Aires, Argentinien, geboren wurde?
Aufgewachsen im Argentinien des Goldenen Zeitalters
Argentinien war zu dieser Zeit eine dynamische Nation, die damals, wie der Philosoph irgendwann so schön anmerkte, über mehr Innentoiletten verfügte als Kanada zum gleichen Zeitpunkt1. Das Land – achtgrößter Staat der Erde, zweitgrößter des südamerikanischen Kontinents – erlebte zwischen den Jahren 1880 bis 1930 sein „goldenes Zeitalter“. Es verfügte über das fünftgrößte Bruttosozialprodukt der Erde, über eine große Mittelschicht, eine kampfeslustige Arbeiterbewegung, eine radikale zentristische Regierung sowie eine wachsende Sozialistische Partei – alles Belege für das Vorhandensein einer dynamischen Zivilgesellschaft. Die breitgefächerte Gruppe der kulturell interessierten Argentinier dieser Zeit las Literatur zumindest in einer Fremdsprache – meist in Französisch – und versuchte, über die kulturellen Fortschritte in Europa auf dem Laufenden zu bleiben.
In diesen kulturell dynamischen Zeiten begab es sich also, dass der junge Mario sich für Philosophie interessierte. Wir haben bereits gehört, dass seine erste philosophische „Liebe“ dem deutschen Idealismus gehörte, die aber in dem Augenblick verging, als er durch Logik und Mathematik mit Konzepten exakten Denkens in Berührung kam. Ein weiterer wichtiger intellektueller Einfluss war die moderne Physik, die zu dieser Zeit ebenfalls ihr goldenes Zeitalter erlebte.
Ähnliche intellektuelle Entwicklungen wie Mario Bunge erlebten damals eine ganze Reihe begabter junger Menschen in Südamerika2. Ein wesentlicher Hintergrund war, dass modernes wissenschaftliches Denken in Lateinamerika bereits lange Zeit großes Interesse fand. Auch die modernen Entwicklungen in Logik, Semantik und Epistemologie wurden mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Das Interesse an diesen Entwicklungen bekam durch engagierte philosophische Diskussionen angetrieben in den 1940er Jahren größere Dynamik.
Als sich die Wissenschaftsphilosophie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg international als neue professionelle Disziplin formierte, war der Boden bereitet: Einige dieser an Wissenschaft und Philosophie interessierten jungen Südamerikaner waren qualifiziert und motiviert, mit ihren Beiträgen eine wichtige Rolle bei der Begründung des neuen philosophischen Feldes zu spielen. Ab der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gelang es einer Anzahl von Wissenschafts-Philosophen in Südamerika – trotz der dort herrschenden ungünstigen politischen Begleitumstände – Werke auf höchstem internationalen Niveau zu schaffen. Sie erreichten ein Niveau, das Autoren aus der Dritten Welt in keinem weiteren bedeutenden Feld der Philosophie erreichen konnten.
Argentinien übernahm dabei eine besonders wichtige Rolle:
Während sich die Wissenschaftsphilosophie insbesondere an Universitäten in den USA und Europa ab den späten 40er Jahren entwickelte, wurde die neue philosophische Disziplin zeitgleich auch in Buenos Aires bereits eifrig entwickelt. Wissenschaftsphilosophie wurde schon früh als Studienzweig an Hochschulen in der argentinischen Hauptstadt etabliert. Persönlichkeiten wie Gino Germani und Mario Bunge zu Beginn der 50er Jahren wissenschaftsphilosophische Seminare an. Als besonders nützlich zur Gewinnung von Aufmerksamkeit für die neue Philosophie-Disziplin erwies sich dabei die Diskussion der Werke von Bertrand Russell und von Vertretern des Wiener Kreises.
Blüte der südamerikanischen Wissenschafts-Philosophie in den 50er Jahren
So kam es, dass Buenos Aires und Umgebung in den 50er Jahre mit Blick auf die Wissenschaftsphilosophie und ihrer zukünftigen Entwicklung eine Dekade des Optimismus erlebte. Mehrere höchst aktive philosophische Initiativen starteten in dieser Zeit. Eine davon war der „Philosophische Zirkel von Buenos Aires“ – Círculo Filosófico -, der von Mario Bunge geleitet wurde. Hier wurden frühe Entwürfe seiner später international erschienenen Werke diskutiert, insbesondere die Vorüberlegungen zu seinem im Jahr 1959 in Harvard als „Causality“ veröffentlichten Buchs über die Geschichte und Problematik des Kausalitäts-Konzepts.
Eine Hauptmotivation hinter den Aktitivitäten Bunges war es damals, professioneller Philosophie in Argentinien den Boden zu bereiten. So war er im Jahr 1956 Mitinitiator einer weiteren neuen Diskussions-Gruppe für Logik und Wissenschaftsphilosophie, der Agrupación Rioplatense de Lógica y Fiosofía Científica. Diese verfolgte das Ziel, die philosophischen Denker aus Argentinien und Uruguay zusammenzubringen, um die Entwicklung kritisch-rationalen Denkens zu fördern. Beteiligt waren neben Mario Bunge und Gino Germani unter anderem Jorge Bosch, und Rolando García.
Zum Verständnis der Entwicklung der Forscherpersönlichkeit Mario Bunges in dieser Zeit ist wesentlich, seinen Sonderweg in die akademische Philosophie zu kennen:
Zunächst hatte sich Mario Bunge mit Blick auf seine akademische Karriere auf die theoretische Physik konzentriert und Philosophie „in Eigenregie“ studiert. Für die Wissenschaftsphilosophie engagierte er sich erst einmal außerhalb der Universität.
Diese Herangehensweise zahlte sich aus: Anfang des Jahres 1957 gewann Mario Bunge den Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie an der Universität von Buenos Aires und bekleidete parallel einen Lehrstuhl für theoretische Physik an seiner Alma Mater, der Universidad Nacional de La Plata.
Seine Antrittsdissertation an der Universität von Buenos Aires trug schicksalhaft den Titel „Wissenschaftlich philosophieren und einen philosophischen Zugang zur Wissenschaft finden.“ Von da an widmete er den Großteil seiner akademischen Bemühungen der Aufgabe, eine Philosophie auszuarbeiten, die in Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Mathematik, Wissenschaft und Technologie steht. Die Verfolgung dieser Aufgabe beschäftigt ihn bis heute – also über beinahe sechs Jahrzehnte.
Zum Verständnis von Mario Bunges Weg ist weiterhin wichtig, auch seine „Nebenwege“ zu kennen, auf denen er sich mit großem Engagement bewegte. Zu diesen Nebenwegen gehört, dass er im Jahr 1938 eine Hochschule für Arbeiter gründete. Als diese Universidad Obrera Argentina durch das diktatorische Militärregime im Jahre 1943 geschlossen wurde, verfügte sie über 1.000 Studenten und 50 Lehrer. Die Arbeiterhochschule bot Kurse in Maschinenbau, Elektrotechnik und chemischer Verfahrenstechnik sowie in spanischer Sprache, Geschichte, Wirtschaft und Arbeitsrecht an.
Und im Jahr 1944 startete Mario Bunge die Herausgabe von Minerva, einer philosophischen Fachzeitschrift. Redaktionelles Ziel war die Verteidigung der Rationalität angesichts der sich auch in Argentinien auswirkenden nationalsozialistischen Angriffe auf kritisches Denken. In einem kämpferischen Editorial erklärte Mario Bunge damals, dass der Krieg gegen den Faschismus mit einem parallelen philosophischen Kampf gegen den Irrationalismus zu begleiten sei. Hintergrundinformation: Zu Zeiten des Dritten Reichs setzte das argentinische Militärregime Dozenten in führende akademische Positionen ein, die zuvor in Deutschland studiert hatten und häufig sich zum Existentialismus bekennende Anhänger Martin Heideggers waren.
Kommen wir zu den philosophischen Inhalten, die Mario Bunge damals in Argentinien bewegten:
1959 – Mario Bunge startet seine internationale Karriere
Zwischen 1959 und 1960 veranstaltete Bunge Seminare zur Diskussion der Mängel der empiristischen Konzeption der Kausalität, die er dafür verantwortlich machte, große Verwirrung in Wissenschaft und Philosophie bewirkt zu haben. Bunge fasste seine Gedanken dazu in dem bereits erwähnten Kausalitäts-Buch aus dem Jahr 1959 zusammen, das ein bemerkenswerter internationaler Erfolg wurde. In diesem Buch vertritt er eine realistische Konzeption der Kausalität und ergänzt diese mit weiteren wichtigen Konzeptionen materieller Determination (u.a. statistisch-, selbst-, wechselwirkend-determinierte Prozesse). Neben anderen Werken, die er in dieser Zeit in Argentinien entwarf, konnte „Causality“ einen festen Platz in den philosophischen Buchlisten Europas und der Englisch-sprachigen Welt erobern. Ein Novum: Zum ersten Mal kamen Philosophie-Bücher, die den Status von „Klassikern“ erhalten sollten, aus Lateinamerika. Das gelang, obwohl die politischen Verhältnisse in seinem Heimatland äußerst schwierig waren und kritisches Denken von den Mächtigen stets misstrauisch beobachtet wurde. Seit den 1950er Jahren war Bunge stets ein energischer Fürsprecher für die Notwendigkeit, Lateinamerikanern eine philosophische Ausbildung zu ermöglichen, die ein Denken frei von ideologischem Druck, finanzieller Bedrängnis und politischer Kontrolle förderte. An der Universität in Buenos Aires unterstütze er Studenten und Mitarbeiter dabei, eine strenge philosophische Professionalität zu entwickeln.
Nachdem sich die Wissenschaftsphilosophie in Argentinien zunächst so positiv entwickelte, traten irgendwann Hindernisse auf. Auf breiter Front verschlechterte sich die Lage im Land. Anfang der 60er Jahre traten Konflikte zwischen verschiedenen Fraktionen in der argentinischen Armee zutage, die einen zunehmend negativen Einfluss auf die Existenz der Bevölkerung nahmen.
Als Konsequenz verließ Mario Bunge im Jahr 1963 das Land – zunächst in Richtung USA. Doch angesichts des kritikwürdigen Vietnam-Krieges fühlte er sich hier nicht heimisch und ging nach Kanada. Seitdem lebt er dort und lehrte seit dem Jahr 1966 an der McGill University, Montreal, als Professor für Logik und Metaphysik.
Mario Bunge hat mehr als fünfzig Bücher, hunderte von philosophischen und wissenschaftlichen Artikeln geschrieben – meist in Englisch und Spanisch. Eine ganze Reihe seiner wichtigen Werke wurden ins Deutsche, Italienische, Russische, Französische, Ungarische, Portugiesische und Chinesische übersetzt. Auf die Mainstream-Philosophie haben unter anderem seine Werke Kausalität (Causality 1959), The Myth of Simplicity (1963) und Foundations of Physics (1967) einen größeren Einfluß erreichen können. Sein herausragendes Hauptwerk ist sein achtbändiges Treatise on Basic Philosophy, das zwischen 1974 und 1989 herauskam.
Bunge hat in seinem Werk stets die Rolle der Logik als Klärungsinstanz des Denkens verteidigt. Seine Werke und seine Veranstaltungen sind für die Schärfe berühmt, in der philosophische und ideologische Positionen kritisiert werden, welche die Bedeutung der Rationalität, der Suche nach Wahrheit oder sogar den Respekt vor den Rechten des menschlichen Individuums in Frage stellen. Bunge gilt deshalb als enthusiastischer Fortsetzer des Projekts der Aufklärung.
Im Feld der Wissenschaftstheorie genießt er heute die Rolle eines wichtigen Vordenkers – so schrieb der deutsche Wissenschaftsphilosoph Bernulf Kanitscheider: „Wenigen außerordentlichen Persönlichkeiten ist es vergönnt, die intellektuelle Geographie einer wissenschaftlichen Epoche entscheidend mitzugestalten. Mario Augusto Bunge gehört zu dem kleinen Kreis bedeutender Wissenschaftsphilosophen, deren Werke bereits jetzt zu Marksteinen in der geistigen Landschaft der Weltphilosophie geworden sind.“3
In Lateinamerika wird Bunge heute als Vorbild geschätzt, weil er eine internationale Anerkennung erreichte, wie kein anderer südamerikanischer Philosoph vor ihm. Sein Werk wird heute als Beweis dafür betrachtet, dass es auch Denker, die in einem Subkontinent arbeiten und schwierigsten Bedingungen ausgesetzt sind, aufsteigen können, um federführend an der internationalen Fachdiskussion auf höchstem Niveau teilzunehmen.
So weit zum historischen und biografischen Rückblick. – Nun haben die Leserinnen und Leser Gelegenheit, seine Stimme „live“ im Interview zu erleben (Das Interview wurde auf Englisch geführt und anschließend von mir ins Deutsche übersetzt.):
Das Interview des Sommers 2013
Was ist philosophische Kompetenz?
?- Professor Bunge: In Ihrem im Jahr 2012 erschienen Buch “Evaluating Philosophies” gehen Sie einer Frage nach, die Laien aus Ihrer Sicht ständig im Mund führen, und mit der ich hier starten möchte:
Wie kann der Wert von Philosophien bemessen werden? – Meinen Sie, gute Philosophie müsse nützlich sein, müsse sich vielleicht sogar in gewisser Weise “auszahlen”?
Mario Bunge:
Aus meiner Sicht kann Philosophie gut, schlecht oder gleichgültig sein – je nachdem inwieweit sie bei der Weiterentwicklung unseres Wissens hilft, diese behindert oder nichts dazu beiträgt.
Die Belohnung ist nicht finanzieller, sondern kultureller Natur. Beispielsweise begünstigte die Französische Aufklärung den Fortschritt von Wissenschaft und Technologie, während Phänomenologie und Existentialismus diesen blockierte. Wittgensteins Sprachphilosophie zum Beispiel hat keine Wissens-Probleme gelöst, weil sie sich auf Wörter konzentrierte. In jedem Fall haben die Belohnungen und Bestrafungen kulturelle und keine finanziellen Konsequenzen. Damit möchte ich aber nicht die akademischen “Söldner” entlasten – wie beispielsweise die katholischen und marxistischen Philosophen -, die lehrten, was ihnen ihre “Dienstherren” auftrugen. Echte Philosophie ist stets „deviant“ oder sogar subversiv. Denken Sie daran, dass Thomas von Aquins Lehren zunächst von der Kirche als Gotteslästerung verurteilt wurden.
? – Ihr Anspruch ist offenbar, dass eine Philosophie nach präzise definierbaren Leistungskriterien beurteilbar ist: Wie kommt dieser vermeintliche Pragmatismus bei Ihren Kollegen an?
Mario Bunge:
Die meisten Philosophen vermeiden es heute, für kontroverse Themen entschieden aufzutreten. Sie finden, dass es sicherer und lohnender ist, Kommentare über Kommentatoren zu schreiben, als neue Ideen zu erfinden. Die meisten zeitgenössischen Philosophen sind konservativ und darauf bedacht, ihre Arbeitsplätze zu behalten.
? – Mancher Laie kritisiert an der heutigen Philosophie, dass sie sich als Fach in eine Nebenwelt “hineinmanövriert” hat. Viele philosophische Autoren hätten sich
• angesichts dynamischer Wissenschaften, deren Errungenschaften sie nicht verstehen
• angesichts von Ideologien, mit denen sie nicht konfrontiert sein möchten
• angesichts starkem öffentlichem Einfluss von anderen vermeintlichen “Geistesgrößen” wie Nachrichtensprechern und journalistischen Kommentatoren, Finanzexperten, Wirtschaftsexperten, politischen Experten, Intellektuellen, künstlerischen Virtuosen, Prominenten usw., in eine “außerweltliche Nische” zurückgezogen.
Sie übernähmen die Funktion einer ästhetisch-intellektuellen “Verschönerung” des Blicks auf eine durch Sachzwänge unveränderbar geprägten Welt.
Hat die Philosophie tatsächlich ihr “Königreich” verloren, und ist der Philosoph eine Person, wie sie von Paul McCartney in einem Beatles-Song verewigt wurde – ist er ein „fool on the hill“? Über welche Kompetenz verfügen Philosophen heute noch, über die andere Kultur- oder Kompetenzträger nicht verfügen?
Mario Bunge:
Das ist wahr. Sogar Philosophen, die auf der einen Seite Pseudowissenschaften wie Psychoanalyse angeprangert haben, dulden auf der anderen Seite stillschweigend pseudowissenschaftliche ökonomische Theorien wie die neoklassische Mikroökonomie. Es ist viel sicherer und einfacher, Freud und Jung zu kritisieren, als offen gegen Milton Friedman und Friedrich Hayek einzutreten: Schließlich haben diese Rückhalt bei politischen Bewegungen, was für die Ersteren nicht zutrifft. Ähnliches gilt für die kreationistische Kosmologie und das „Intelligente Design“: Wer sich als philosophischer Autor für sie einsetzt, kann hoffen, den Templeton Preis* verliehen zu bekommen oder zumindest finanziell unterstützt zu werden.
*: (umstrittener Preis für “religionsfreundliche” Wissenschaftler und Prominente)
? – Offensichtlich ist die Philosophie kein einheitliches Feld. Es gibt philosophische Paradigmen, die miteinander konkurrieren. Umso wichtiger scheint es zu sein, zu lernen, philosophische Kompetenz zu erkennen…
Mario Bunge:
Philosophische Kompetenz ist schwer zu beurteilen – auf jeden Fall ist philosophischer Sachverstand in unterschiedlichen Kulturen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Aus meiner Sicht ist ein kompetenter Philosoph kein weltfremder Schriftgelehrter, sondern jemand, der wertvolle Ansätze für interessante Probleme – etwa in Wissenschaft und Technologie – diskutiert.
Fortschritt der philosophischen Aufklärung
? – An Universitäten können Studenten Philosophie “lernen”, indem sie Vorlesungen und Seminare besuchen,
• in denen die Bücher klassischer philosophischer Autoren und Denker
• die philosophische Systematik (Ontologie, Erkenntnislehre, Moralphilosophie, politische Philosophie, Ästhetik usw.) und
• die Philosophie-Geschichte (Vorsokratiker, klassische griechische Philosophie, Scholastik, Neuzeit, Aufklärung, Moderne, Postmoderne usw.)
diskutiert werden.
Aus Ihrer Sicht: Sind die hierbei präsentierten “großen” historischen philosophischen Fragen auch heute noch große Fragen? Wie sehen Sie die Zukunft dieser Fragen?
Mario Bunge:
Einige der großen philosophischen Probleme wurden durch Wissenschaft – zumindest bis zu einer ersten Annäherung – gelöst. Beispiel: die Probleme der Beziehung von Materie und Geist. Nur philosophische Reaktionäre, wie Noam Chomsky, behaupten, dass sie ein Geheimnis ist und bleiben wird. Physiker und Chemiker wissen, was Materie ist, und kognitive Neurowissenschaftler wissen, dass mentale Prozesse Vorgänge im Gehirn sind. Natürlich bleibt hier noch viel zu lernen, aber wir wissen, wie das funktioniert: durch wissenschaftliche Forschung.
? – Es gab Zeiten, in denen Philosophen richtungsweisende Intellektuelle in den kulturellen Systemen ihrer Gesellschaften und Ratgeber von Regenten waren:
Wie sehen Sie den Status der Philosophie in Gesellschaft und Kultur heute? Was wurde aus der philosophischen Aufklärung?
Mario Bunge:
Der Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ist immer noch lebendig – allerdings ist er unvollständig, da er nur das gesellschaftliche Leben betrifft. Um Freiheit zu erreichen und zu genießen, um Gleichheit zu erlangen und um Brüderlichkeit (oder besser Solidarität) zu praktizieren, müssen die Betroffenen Jobs haben, und um diese Arbeitsplätze halten zu können, müssen sie gesund sein und eine recht gute Ausbildung bekommen. Daher ist der Dreiklang aus dem 18. Jahrhundert mit dem Folgenden zu ergänzen: Arbeit, Gesundheit, Bildung.
Zeitgenössische Philosophen sind mit Problemen konfrontiert, die noch vor einem Jahrhundert undenkbar waren, wie etwa, ob Raum und Zeit voneinander unabhängig sind, ob es objektive Zufallsereignisse oder nur subjektive Ungewissheit gibt, ob Physik chemische Zustands-Veränderungen erklären kann, ob unser Verhalten vollständig durch unser Genom bestimmt ist, ob unsere Gedanken Zustände in unserem Hirn verändern können oder ob entweder die Wirtschaft oder Ideen die eigentliche Wurzel der Gesellschaft sind. Ein Philosoph, der sich nicht für wissenschaftliche Neuigkeiten interessiert, kann keines dieser Probleme angehen. Entsprechend gilt das für soziale Fragen, wie zum Beispiel, ob der Kapitalismus zu erhalten ist oder ob diesem, wie John Stuart Mill und Louis Blanc es in den 1850er Jahren vorgeschlagen haben, genossenschaftliches Eigentum und Management vorzuziehen sind, weil sie gerechter und effizienter sind.
? – Was ist Ihre Einschätzung: Wo haben die Gesellschaften die Aufklärung konsequent aufgegriffen und fortentwickelt? Wo kam der Fortschritt zu einem Stillstand? Wo ist er komplett gescheitert? Wie sieht die Zukunft der Aufklärung aus?
Mario Bunge:
Die Aufklärung war ein enormer Fortschritt, aber ihr folgte die Gegenaufklärung, so dass ihre Ideale nicht verwirklicht wurden. Außerdem sind wir mit neuen gesellschaftlichen Problemen konfrontiert, wie Arbeitslosigkeit aufgrund technologischer Entwicklung und Umweltzerstörung, die vor zwei Jahrhunderten unbekannt waren. Wir müssen die Aufklärung nach einer gewissen Zeit wieder umbauen. Gegen die Aufklärung wegen ihrer Schwächen zu opponieren, wie es die Frankfurter Schule getan hat, ist so absurd wie die Schließung von Schulen mit der Begründung, sie wären nicht in der Lage, das komplette menschliche Wissen zu vermitteln.
? – Aktuell versuchen prominente Intellektuelle, kritisches Denken zu verbieten: Traditionelle Denkmaßstäbe sollten geschützt und nicht durch kritisches Denken “beschädigt” werden dürfen – philosophische Rationalität und Glauben sollten zu diesem Zweck versöhnt werden. Entsprechend äußerte sich Michael Sandel kürzlich in einem Interview mit der Wochenzeitung “Die Zeit” – Jürgen Habermas plädiert für eine “strikte Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen” und behauptet die Existenz eines “opaken Kerns” der Innerlichkeit des Gläubigen, der einer rationalen Analyse entzogen ist:
Wie beurteilen Sie diesen von Hans Albert als “Beschränkung des Vernunftgebrauchs” bezeichneten Trend zur Aussetzung rationaler und philosophischer Analyse aus Rücksicht auf gewisse Traditionen?
Mario Bunge:
Damit bin ich nicht einverstanden. Wir sollten nur glauben, was sich als wahr oder angemessen herausstellen kann. Irrationale (oder ungerechtfertigte) Überzeugungen sollten vermieden werden, weil sie in der Praxis katastrophale Konsequenzen haben können. Nur die Dummen und die Verschlagenen fürchten rationale Kritik. – Ich stimme Albert zu – allerdings glaube ich nicht, dass Kritik zu üben ausreicht: Wir müssen auch Pflanzen aussähen – Unkraut jäten reicht nicht.
Wissenschaft und Philosophie
? – Die Reflexion der Ergebnisse der modernen empirischen Wissenschaften nimmt breiten Raum in Ihren Arbeiten ein. Viele Ihrer philosophischen Kollegen sehen dagegen einen ernsten Konflikt zwischen den Interessen von Individuen, sozialen Gruppen auf der einen Seite und den Auswirkungen von wissenschaftlichem und technologischem Denken auf der anderen Seite. Sie nehmen eine tiefgreifende Abwehrhaltung insbesondere gegenüber der modernen Wissenschaft ein:
Welchen Stellenwert haben vor diesem Hintergrund empirisch-wissenschaftliche Befunde für Ihr philosophisches Denken?
Mario Bunge:
Ich teile nicht Michel Foucaults Misstrauen gegenüber der Wissenschaft. Denn ich weise seine Ansicht zurück, dass Wissenschaft lediglich Politik mit anderen Mitteln sei. Wissenschaftler streben nach Wissen, nicht nach Macht, und zu viele mächtige Leute haben Angst vor den Sozialwissenschaften, weil sie zeigen könnten, dass bestimmte politische Gruppen einseitigen Interessen dienen, statt das allgemeine öffentliche Wohl zu verfolgen. Eine seriöse Wissens-Soziologie – wie die von Robert Merton – lässt sich nicht politisch instrumentalisieren.
Ich selbst habe nichts von strengen sozialwissenschaftlichen Wissenschafts-Analysen zu befürchten, und ich hoffe, zum einen dass meine Philosophie einer progressiven Wissenschaftspolitik dient, und dass sie zum anderen aufzeigt, dass die meisten modernen Ansichten über Wissenschaft ignorant und rückschrittlich sind, auch wenn sie durch eine “links-progressiv” klingende Rhetorik begleitet werden.
? – Wo liegen aus Ihrer Sicht die Grenzen zwischen Philosophie und Wissenschaft – welche Rollen spielen beide jeweils in welchem Spiel?
Mario Bunge:
Es gibt einen kontinuierlichen Übergang, keine scharfe Trennung zwischen Wissenschaft und Philosophie. Wie Fichte es ausdrückte – es selber aber nicht praktizierte-, sollte die Philosophie die Wissenschaft der Wissenschaften sein. Und wie einige Philosophen feststellten, setzt wissenschaftliche Forschung ein paar philosophische Thesen voraus – beispielsweise, dass Realität intellektuell erfaß- und erklärbar ist.
? – Die Wissenschaften scheinen uns bereits alle wichtigen rationalen Erklärungen der Welt zu geben. Was kann die Philosophie beitragen, das über wissenschaftliche Rationalität und wissenschaftlichen Sachverstand hinausgeht?
Mario Bunge:
Es genügt, sich drei Beispiele aus der Geschichte der Philosophie zu vergegenwärtigen:
● Lukrez‘ Prinzip „Nichts kommt von Nichts“,
● Baron von Holbachs Hypothese, dass jedes Ding ein System oder Teil eines Systems ist, und
● Alkmaions* Annahme, dass mentale Prozesse Hirnprozesse sind.Das erste Prinzip ermutigte die Suche nach Invarianten in Wandlungsprozessen, das zweite half den Blick für Systeme in Merkmals-Ansammlungen zu schärfen und das dritte ist nicht weniger als die Mutter der biologischen Psychologie bzw. der kognitiven Neurowissenschaften.
(zu *: Alkmaion (griechisch: λκμαίων), auch Alkmaion von Kroton genannt, Naturphilosoph – Vorsokratiker. Er lebte im späten 6. und frühen 5. Jahrhundert in Süditalien.)
? – Täglich können wir einen Strom an Wissenschafts-Meldungen beobachten. Die AAAS veröffentlicht jeden Tag eine Vielfalt von Hinweisen auf neue Studien auf ihrem http://www.eurekalert.org/-Kanal:
Was ist der Rat des Wissenschafts-Philosophen: Wie können Laien mit dieser Komplexität fertig werden und Anleitung finden, die Welt zu verstehen?
Mario Bunge:
Während sich Wissenschaftler stets mit der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnis zufrieden geben, können Philosophen warnen, dass es immer noch zu früh ist, um das Neueste als der Weisheit letzten Schluss zu preisen. Zum Beispiel mögen Philosophen das Staunen der Physiker über die aktuellsten Erkenntnisse in Bezug auf einzelne Elektronen und Photonen teilen, aber sie sollten warnen, dass sich die theoretische Physik in ungelöste Probleme verstrickt hat und dass die Klarsicht der Kosmologie immer noch durch Mythen von der Schöpfung des Universums aus dem Nichts getrübt ist.
? – Bietet die Philosophie heute noch einen Kompass an, der Orientierung durch langfristig stabile Grundannahmen gibt?
Mario Bunge:
Ja, die Philosophie kann Laien dabei helfen, die zahlreichen pseudowissenschaftliche Dogmen zu erkennen und zu verwerfen, die in den Medien fortleben, wie beispielsweise die Phantasien der Psychoanalytiker, der Evolutionspsychologen sowie der ökonomischen Gleichgewichtstheoretiker. Insbesondere können Philosophen die Belege solcher Phantasiegebilde hinterfragen. Darüber hinaus sind sie in der Lage, ein paar Regeln vorzuschlagen, mit denen die Geltungsansprüche von angeblichen Erkenntnissen bewertet werden können:
1. Ist die vorgeschlagene Erkenntnis mit dem Großteil vorliegenden Wissens vereinbar?
2. Ist sie durch solide empirische Beweise gestützt?
3. Lassen sich auf ihrer Basis neue empirische Forschungsprojekte herleiten?
4. Gefährdet sie eventuell grundlegende soziale Werte – wie zum Beispiel Frieden und Lebensqualität?
5. Unterstützt sie die Interessen der Feinde des moralischen oder sozialen menschlichen Fortschritts?
? – Wie können wir mit wissenschaftlichen Mythen fertig werden? – Wissenschaften stellen Laien nicht immer hilfreiche Orientierungsmöglichkeiten zur Verfügung. Manchmal lesen wir “sensationelle” Wissenschaftsnachrichten, die offenbar inkonsistent und in Konflikt sind mit dem, was als seriöses wissenschaftliches Wissen betrachtet werden kann.
Mario Bunge:
Ja, es ist ein Skandal, wie manche Wissenschaftler kritiklos einige der lächerlichsten Spekulationen akzeptieren, wie beispielsweise die Existenz einer Vielzahl von Welten; die Meinung, dass die Raumzeit mehr als vier Dimensionen hat, dass sich Teilchen schneller als das Licht bewegen können oder dass das menschliche Leben auf unbestimmte Zeit verlängerbar ist.
Jeder, der eine wissenschaftliche “Weltanschauung” verfolgt, wird Begeisterung durch Vorsicht zu mildern wissen.
? – Was sind die Hintergründe dieser Spekulationen? Sind da “Wissenschafts-Mythen” am Werk? Wie kann die Wissenschafts-Philosophie sie entlarven und helfen, solides wissenschaftliches Wissen von Legenden zu unterscheiden?
Mario Bunge:
Dies ist eine interessante Frage, die es verdient, ausführlich interdisziplinär behandelt zu werden. Allerdings zeichnet sich ab, dass es ein paar sehr allgemeine Mythen gibt, welche die Entstehung weiterer Mythen unterstützen:
• dass alles möglich ist,
• dass das, was wir nicht mit normalen und irdischen Vorstellungen aufzuklären vermögen, paranormale oder übernatürliche Erklärungen haben müsse
• und dass die Wissenschaft, weil sie rational ist, nicht Irrationales wie Geschmack und Liebe zu erklären vermag.
? – Selbst hoch verdiente Wissenschaftler können sich in Esoteriker verwandeln …
Mario Bunge:
Ein angesehener Kognitions-Neurowissenschaftler gestand mir, dass er sich wegen seiner religiösen Erziehung nicht vom psychoneuralen Dualismus lösen konnte. Die Vorstellung, dass wir mit dem Tod aufhören zu sein, wäre für ihn zu schmerzhaft.
? – Was steckt hinter solchem “Wissenschafts-Aberglauben”?
Mario Bunge:
Eine der Ursachen ist die Abspaltung der Wissenschaft von der Philosophie: Der Glaube, dass die Wissenschaft autark sei. Ein weiterer Grund liegt in der Verwendung des “argumentum ad verecundiam” – des Autoritätsarguments – also im Verweis auf die ehrfurchtgebietende wissenschaftliche Expertise. Eine dritte Ursache ist das Fehlen einer historischen Betrachtungsweise.
Der Kampf für die Einheit von Körper und Bewusstsein
? – Vor über 37 Jahren wurden Sie in eine Kontroverse verstrickt, die durch einen Mythos dieser Art verursacht war.
Während des Weltphilosophie-Kongresses, der im Jahr 1978 in Düsseldorf abgehalten wurde, hatten Sie eine öffentliche Debatte mit Sir John Eccles, dem berühmten Neurowissenschaftler, einem Nobelpreisträger und Koautor Ihres Freundes, des berühmten Philosophen Sir Karl Popper. Eccles vertrat die idealistische und parapsychologische These, dass der immaterielle Geist die Neuronen in Bewegung hält, ähnlich wie der Pianist sein Piano spielt. Auf der Basis neurowissenschaftlicher Erkenntnisse vertraten Sie die Gegenposition: Dass das Bewusstsein die spezifische Funktion des menschlichen Gehirns ist. Die Kongress-Teilnehmer waren angesichts der Härte Ihres Disputs erstaunt.
Mario Bunge:
Sir John Eccles war ein bemerkenswerter Techniker – der Erste, dem es gelang, die Aktivität einzelner Nervenzellen mit Hilfe einer von ihm selbst erfundenen Mikroelektrode aufzuzeichnen. Da er die Seele nicht in der einzelnen Hirn-Nervenzelle fand, verstieg er sich zu dem Schluss, dass der Geist immateriell sei. Viele Jahre zuvor, hatte Eccles in der renommierten Wochenzeitung „Nature“ ein Skript veröffentlicht, in dem er behauptete, dass sich das Neuron aufgrund der telekinetischen Aktivität unserer Seele auf seine typische Art verhält. Warum dieses Skript zur Veröffentlichung angenommen wurde? Weil der Redaktion ein Filter-Mechanismus fehlte. Und warum der berühmte Philosoph Karl Popper Eccles unterstützte, statt ihn zu kritisieren? Weil Popper über keine kohärente Weltsicht verfügte und weil sein Kriterium für Wissenschaftlichkeit rein empirisch war: Er war mit dem Kriterium der Widerlegbarkeit zufrieden, während die meisten Wissenschaftler fordern, was ich als externe Konsistenz bezeichne, nämlich die Kompatibilität mit dem Großteil des bereits vorliegenden bewährten Wissens – in diesem Fall mit dem der Physik und nicht etwa mit dem des unwissenschaftlichen Konzepts der Telekinese, dem die Vorstellung von der Schaffung von Energie aus dem Nichts zugrunde liegt.
? – Welches Echo bekamen Sie damals von Kollegen? Was sagte Ihr Freund Sir Karl Popper, der einen Dualismus favorisierte?
Mario Bunge:
Popper fand das unerfreulich: Er sagte mir, dass es ihn jedes Mal schmerzte, wenn sich zwei seiner Freunde bekämpften. Aber tatsächlich steckte mehr dahinter. Poppers Dualismus kollidierte mit seinem eigenen Wissenschaftlichkeits-Kriterium, denn dieser Dualismus ist unwiderlegbar. Außerdem genießt dieser nicht die Zustimmung der Neurowissenschaften. Einige Jahre zuvor hatte Popper mich gescholten, weil ich geschrieben hatte, dass die sogenannte die Steady-State-Theorie des Universums Hokuspokus sei: Denn die nimmt an, dass die Materie aus dem Nichts entsteht, um die konstante Energiedichte angesichts der Expansion des Universums erklären zu können.
Ich weiß nicht, wie andere Philosophen darauf reagierten – mit der Ausnahme von marxistischen Philosophen: Auf demselben Kongress bat mich der Redakteur des sowjetischen philosophischen Journals „Filosofskie Nauki“ – ein Professor Gott – das war tatsächlich sein Name – um einen Beitrag. Ich schickte ihm den Aufsatz „The bankrupcy of psycho-neural dualism“ (“Der Bankrott des psycho-neuralen Dualismus”), den er zusammen mit einem Papier eines gewissen D. Dubrovsky veröffentlichte, der doppelt so lang war wie meiner und das den Dualismus verteidigte. Warum? Weil Lenin einst die These von Peter Josef Dietzgen kritisiert hatte, dass der Geist materiell ist – denn demzufolge wäre der Materialismus im Einklang mit dem Idealismus. Kurze Zeit später erging es mir mit dem ungarischen marxistischen Philosophie-Magazin noch einmal ähnlich. Dieses Mal wurde Professor Szenghagothai – ein angesehener katholischer Neurowissenschaftler – gebeten, mich zu widerlegen. Beides waren keine Einzelfälle: Die Marxisten haben nicht Fühlung mit der Wissenschaft gehalten. Sie ziehen es vor, ihre Klassiker zu zitieren. Das ist einfacher und sicherer.
? – In den Jahren nach der Teilnahme an diesem Weltphilosophen-Kongress haben Sie Ihre monistische Perspektive im Detail ausgearbeitet.
Mario Bunge:
Ja, in drei Büchern: „The mind-body problem“ (1980), das ins Deutsche übersetzt wurde (“Das Leib – Seele – Problem: Ein psychobiologischer Versuch” – 1984), „Philosophy of Psychology” (1987) und „Matter and Mind“ (2010). In jedem dieser Bücher habe ich neue Forschungsergebnisse aus den Neurowissenschaften – z. B. über neuronale Plastizität – und der biologischen Psychologie – z. B. über die neuronalen Spuren, die durch Lern-Prozesse bewirkt werden – berücksichtigt.
? – Was haben Sie dabei ermittelt? Ist es möglich, einem Laien mit wenigen Worten zu vermitteln, wie menschliche Freiheit trotz – oder sogar wegen – der materiellen Beschaffenheit von Bewusstseinsprozessen und der Tatsache erklärbar ist, dass es keinen nicht-materiellen Geist – keine Seele – gibt?
Mario Bunge:
Ich glaube, dass die moderne Wissenschaft den freien Willen stützt, indem sie zeigt, dass das Gehirn spontan agiert und nicht lediglich auf externe Stimuli reagiert. Natürlich sind wir nicht von den Gesetzen der Natur losgelöst. Aber die Gesetze des Nervensystems sind nicht die gleichen wie die physikalischen Gesetze. Wenn wir wissen, dass wir einen freien Willen haben, dann glauben wir an unsere Macht, den Status quo zu ändern – das gelingt uns nicht in beliebiger Weise, weil die Gesellschaft unserer individuellen Freiheit nach folgendem Konzept Beschränkungen auferlegt: Ich lass Dich tun, was Du willst, so lange Du mich nicht verletzt.
Realistische Moral und Ethik
? – Offensichtlich kommen wir nun zu grundlegenden ethischen Fragen. Zum Beispiel: Ist es möglich, dass die Wissenschaften, welche die ausschlaggebende Bedeutung von empirischem und realistischem Wissen betonen, moralische Standards und Vorgehensweisen dafür ermitteln, diese im gesellschaftlichen Leben zu verankern?
Mario Bunge:
Wissenschaft ist moralisch neutral, aber die Sozialwissenschaften zeigen uns, dass einige moralische Codes besser sind als andere. Zum Beispiel sind wahrscheinlich Gesellschaften, die sich an die Regel halten „keine Rechte ohne Pflichten und ohne Pflichten ohne Rechte“, besser als diejenigen, die Eigennutz tolerieren oder Gehorsam mit Gewalt erzwingen.
? – Welche Rolle spielen Werte? Stärken sie die Moralität? Wie wirken sie im gesellschaftlichen Leben?
Mario Bunge:
Wir halten für wertvoll, was unsere Bedürfnisse zu erfüllen oder Wünsche zu entsprechen verspricht – das sind individuelle Werte – und was verspricht, unsere sozialen Ziele zu schützen oder zu erreichen – das sind soziale Werte. Aber hierbei handelt es sich nicht um eine Dichotomie – also sich gegenseitig ausschließende Positionen -, denn für einige individuelle Werte wie beispielsweise “Wahrheit” sind einige soziale Werte wie “gegenseitiges Vertrauen” erforderlich, so wie bestimmte soziale Werte wie “Frieden” notwendig sind, um einige individuelle Werte wie eine “gute Gesundheit” zu erreichen.
? – Wer sind moralische Autoritäten – wer kann intervenieren, wenn Auseinandersetzung zwischen gegenläufigen Interessen und Wert-Interpretationen auftreten?
Mario Bunge:
In Theokratien – Gottesstaaten – und anderen autoritären Herrschaftsformen sind die Regenten die moralischen Autoritäten. Im Fall echter Demokratien sind grundlegende Werte in der Rechtsordnung verankert. Dieses Rechtssystem sollte auf der Basis demokratischer Prinzipien kontrolliert werden. Die Umsetzung weiterer Grundwerte bleiben Individuen oder der Gruppe überlassen, die idealerweise ihre moralischen Probleme rational, frei und kooperativ debattieren. Zum Beispiel: Der durch einen Arzt assistierte Suizid sollte ein individuelles Recht sein, aber jeder Einzelfall sollte von allen betroffenen Personen ausdiskutiert werden – vom Patienten, seinen Angehörigen und dem medizinischen Fachpersonal.
Die alte Kontroverse: Religion versus Philosophie
? – Jahrtausendelang betätigten sich Religionen als moralische Autoritäten und werden auch heute noch – etwa bei politischen Diskussionen – als legitime meinungsführende Organisationen anerkannt:
Wie ist Ihre Einschätzung: Sind die Religionen wieder erstarkt? Bauen sie ihren Einfluss in Gesellschaften des Westens, Ostens und Mittleren Ostens weiter aus? Wie sieht es parallel mit dem Status der Philosophie aus?
Mario Bunge:
In einigen Regionen wie Nordamerika und Japan ist die Religion im Schwinden begriffen: Die Gotteshäuser sind leer und das Priestertum diskreditiert. Aber in anderen Regionen ist die Religion stärker als je zuvor, nämlich weil sie als ein Werkzeug für die Emanzipation vom sogenannten “Westen” genutzt wird. Das passiert mit dem Islam seit den Zeiten von Mossadegh und Oberst Nasser.
? – Häufig wird behauptet – auch von Philosophen -, Religion und philosophisches Denken seien miteinander vereinbar oder die Philosophie respektiere die “höheren” Erkenntnisansprüche der Religionen.
Mario Bunge:
Dogmatische Philosophie ist sicherlich mit Religion kompatibel – in manchen Fällen ersetzt sie diese. Aber seit der griechischen und römischen Antike ist die aufgeklärte Philosophie der Fluch der Religion. Kein Wunder, denn echte Philosophen akzeptieren keine übernatürlichen Wesen, kein Leben nach dem Tod, keine Weisheits-Offenbarungen, keine Sünden-Lossprechung oder die absolute Autorität eines religiösen Berufsstands. Die These von der doppelten Wahrheit, der Averroes anhing und die bei Stephen Jay Gould wiederauferstand, ist aus Sicht des Scientismus falsch, der annimmt, dass Wissenschaft legitimiert sei, alles zu untersuchen, während es der Glaube ist, der uns blind macht. Dieselbe These hält uns auch davon ab, grundlos Überzeugungen anzunehmen. Aber wir sollten die Glaubensfreiheit verteidigen – so lange die organisierte Religion nicht etwa versucht, das Vorrecht des Staates zu usurpieren, universelle weltliche Bildung und Schulpflicht sicherzustellen.
? – Wie sehen Sie das Verhältnis der Philosophie zu den Religionen? Gibt es “höhere Glaubens-Sphären”, welche die Philosophie den Religionen zu überlassen hat? Müssen wir am Ende an eine erste schöpfende göttliche Macht glauben, um uns mit unserer menschlichen Existenz zu versöhnen und die Welt zu verstehen?
Mario Bunge:
Historisch betrachtet ist die Religion lediglich eine Form von Aberglauben – aus politischer Sicht ein Instrument der gesellschaftlichen Kontrolle. Authentische Philosophie ist säkular: Sie akzeptiert Kants Diktum aus seiner ‚Kritik der reinen Vernunft‘: „Gott ist eine bloße Idee.“ Allerdings schützt ein demokratischer Staat die Freiheit, Überzeugungen anzunehmen, so lange diese – anders als beispielsweise rassistische Haltungen – für unsere Mitmenschen unschädlich sind. Insbesondere hat der Staat dafür zu sorgen, dass niemand wegen seines Glaubens zu Schaden kommt.
? – Auseinandersetzungen zwischen der arabischen Welt und dem Westen – inklusive Israel – erscheinen heute als Kampf des islamischen gegen den christlichen und jüdischen Monotheismus:
Was ist aus philosophischer Sicht von dieser “religiösen Kriegsführung” zu halten? Gibt es einen philosophischen “Befriedungsplan”? Wie könnte der erfolgreich eingesetzt werden?
Mario Bunge:
Die Geschichtswissenschaft und die Soziologie der Religion legen uns nahe, alle Religionskriege als getarnte politische Kriege zu deuten.
Mohammedaner lebten in Spanien, der Türkei und in Nordafrika seit Jahrhunderten friedlich mit Christen und Juden zusammen – bis zu dem Augenblick, als Ölvorkommen in Arabien entdeckt wurden und britische sowie amerikanische Unternehmen damit begannen, diese auszubeuten. Denken Sie daran wie Mussadegh, der iranische Präsident, von der British Petroleum Company – unterstützt von der CIA (der amerikanischen “Intelligenz”-Agentur) – gestürzt wurde, als er seine Absicht angekündigte, das iranische Öl zu verstaatlichen. Wen haben die Amerikaner an die Macht gebracht, um ihn zu ersetzen? Den mörderischen Schah Reza Pahlavi. Und Israel wäre nicht ebenso verhasst wie die USA, wäre es nicht Amerikas loyalster und effektivster Verbündeter geworden. Weder die USA noch Israel haben jemals eine nationale Befreiungsbewegung unterstützt. Beispielsweise schickte Israel dem Apartheids-Regime sowie den schlimmsten Diktaturen Mittelamerikas Waffen und militärische Berater. Öl, nicht die Religion, steckt hinter dem sogenannten „culture clash“. Auf die gleiche Weise bezahlte einst das katholische Frankreich lutheranische Landsknechte, um die spanisch-österreichische Allianz zu bekämpfen. Stellen Sie sich vor, Sie fragten Kardinal Richelieu, ob er irgendwelche Messen gefeiert hat, für die Seelen von Katholiken – ausgeraubt und massakriert von den lutheranischen Soldaten auf seiner Gehaltsliste.
Kann Philosophie irgendetwas tun, um dieses Problem zu lösen? Nein! Denn es handelt sich um ein wirtschaftliches und politisches Problem, nicht um ein konzeptionelles. Alles was Philosophen tun können, ist, darauf zu verzichten, die Aggressoren zu unterstützen und Sozialwissenschaftler aufzufordern, die Wahrheit zu sagen, statt dem Chor von Lügnern und Heuchlern beizutreten.
Politische Philosophie
? – Bis vor wenigen Jahrzehnten waren politische Philosophien vordergründiger Konfliktstoff zwischen zwei Machtblöcken – zwischen Ost und West:
Was ist aus Ihrer Sicht aus der politischen Philosophie seitdem geworden?
Mario Bunge:
Ganz wenige politische Philosophen hatten den Mut, das Thema des Kalten Krieges anzupacken. Selbst die besten von ihnen haben geschwiegen oder hielten sich an Binsenweisheiten zur Beschönigung der schwerwiegenden Mängel „unserer“ Seite, wie des Rassismus, der sozialen Ungerechtigkeit, der extremen Einkommensunterschiede, der Ausbeutung der Dritten Welt und der Umweltzerstörung. Geschah dies aufgrund von Unwissenheit oder Feigheit? Ich weiß es nicht, und es kommt kaum darauf an.
Tatsache ist, dass sich alle wichtigen politischen Philosophen und Wissenschaftler ausgehend vom großen Aristoteles – mit Ausnahme der Vertreter der französischen Aufklärung und von John Stuart Mill – auf die Seite der Mächtigen geschlagen haben. Ich berücksichtige hier nicht Marx und Engels, weil sie eher Ideologen und politische Journalisten als politische Philosophen oder Politologen waren.
Ich favorisiere eine integrale Demokratie, das heißt, eine radikale Ausweitung der politischen Demokratie um eine biologische Demokratie (der Geschlechter und der Rassen), eine wirtschaftliche Demokratie (des genossenschaftlichen Eigentums und genossenschaftlichen Managements) sowie eine kulturelle Demokratie (freier Zugang zu Bildung). Dieses Rezept wurde noch nie ausprobiert, obwohl es dem in den skandinavischen Ländern praktizierten recht nahe kommt.
?- Mit Blick auf die aktuelle Situation: Was denken Sie – ist da eine digitale politische Revolution im Gange? – Die Arabische Welt ist in Bewegung geraten. Dabei spielt die “digitale politische Bewegtheit” der Individuen und Gruppen eine wichtige Rolle. Wenn wir den Ablauf der Revolutionen – etwa von Tunesien und Ägypten betrachten -, erkennen wir die Bedeutung der Social-Media, der Internet-gestützten Informationsmedien als Koordinations-Instrument der oppositionellen Gruppen. Als Reaktion verdammen heute islamische geistige Führer beispielsweise Twitter. – Auch im Westen werden Bürger durch Social Media beweglich, bilden online Netzwerke, um Meinung zu bilden: Die Regierungen des Westens misstrauen ihren „digitalen“ Bürgern und lassen diese durch ihre Geheimdienste systematisch ausspähen. Sie denken darüber nach, die digitale Freiheit massiv einzuschränken.
Mario Bunge:
Die neuen Medien helfen, Menschen zu mobilisieren, doch sie ersetzen keine Organisation. Empörung ist eine vorübergehende Stimmung von Individuen, während Organisation eine dauerhafte gesellschaftliche Anstrengung erfordert.
?- Wie schätzen Sie es ein: Sind Emails, Twitter, Facebook, Tumblr, Google+ usw. Werkzeuge der Aufklärung, der individuellen Freiheit oder des antidemokratischen Terrors oder gar der Dynamik des postmodernen Kapitalismus?
Mario Bunge:
Ich bewundere diese technologischen Wunderwerke, aber benutze sie nicht. Denn sie lassen ihre Benutzer glauben, sie hätten bereits dadurch etwas erreicht, dass sie einige schlaue Nachrichten an Menschen schicken, die aber stattdessen mehr Zeit investieren sollten, um nachzudenken und sich in persönlichen Beziehungen zu engagieren, was wesentlich dafür wäre, um Liebe, Freundschaft und Zusammenarbeit zu erreichen. Ich habe Mitleid mit den Babys, deren Mütter damit beschäftigt sind, per Smartphone Nebensächlichkeiten auszutauschen, statt mit ihren Kindern spielen; ich habe Mitleid mit den Kindern, die zu sehr von ihren Smartphones gefesselt sind, um Ball zu spielen; ich bedauere die Jugendlichen, die ihre besten Jahre mit einem dieser Apparate verschwenden, statt die Hand eines anderen jungen Menschens zu halten. Alle diese elektronischen Geräte schwächen soziale Bindungen. Soziologen und Psychologen sollten diese ernste Bedrohung untersuchen, anstatt zu wiederholen, dass Kommunikation der Zement der Gesellschaft sei. Kommunikation begleitet zwar sozialen Austausch und kann auf der einen Seite Problemlösungshinweise geben aber auf der anderen verdummen, kann auf der einen Seite mobilisieren und auf der anderen einschüchtern. Kommunikation ist kein Ersatz für Produktion, Zusammenarbeit oder Kampf.
Die deutsche Philosophie und die Welt
? – Durch familiäre Bande, aber auch durch Lehraufträge und Arbeitsphasen in der Vergangenheit ist Ihnen Deutschland vertrauter als vielen anderen international wirkenden Philosophen. – Die deutsche idealistische Philosophie und ihre historisch-materialistische Adaption fasziniert bis heute Menschen in Ost und West. Wie deuten Sie die Faszination von Hegel, Marx und Co. beispielsweise in den individualistisch geprägten anglo-amerikanischen Gesellschaften?
Mario Bunge:
Seit dem 19. Jahrhundert sind die Philosophien von Kant – subjektiver Idealismus -, von Hegel – objektiver Idealismus -, auch gelegentlich eine Mischung der beiden – Dilthey – der “kontinental-europäische” Mainstream. Ironischerweise wurde keine dieser Philosophien in Deutschland begründet: Der subjektive Idealismus wurde von George Berkeley, einem irisch-anglikanischen Priester, entwickelt, der erst über Hume, einem schottischen Skeptiker, den Weg zu Kant fand; und der objektive Idealismus stammt von Platon. Hegels große Leistung besteht darin, dass er wichtige Probleme in Angriff nahm; sein großes Versagen liegt darin, dass er die Gegenaufklärer anführte: die Reaktion gegen Klarheit, gegen Rationalität, gegen Wissenschaftlichkeit und gegen politischen Fortschritt. Als Deutschland zweigeteilt war, wurden zwei Hegel-Gesellschaften organisiert – eine pro-marxistische und eine anti-marxistische. Keine von ihnen kritisierte Hegels Unklarheiten und seine Angriffe gegen die moderne Wissenschaft. Insbesondere akzeptierten beide seine dialektischen Absurditäten und entwickelten diese weiter. Wer – wie Marx – annimmt, Hegel wäre „ein gewaltiger Denker“, ist geneigt zu glauben, dass Konflikte besser sind als Zusammenarbeit, dass die Diktatur des Proletariats spontan vergehen wird – und so weiter. Und wer glaubt, Hegel zu verstehen, ist ebenfalls geneigt zu glauben, dass Husserl und sein Meisterschüler Heidegger tiefschürfende Denker waren.
? – Wie schätzen Sie die heutige Bedeutung “deutscher Denker” für die internationale philosophische Diskussion ein?
Mario Bunge:
Der einzige heute außerhalb Deutschlands bekannte deutsche Philosoph ist Jürgen Habermas. Meiner Meinung nach schreibt er oberflächlich und langatmig. Ihm ist es gelungen, allen wichtigen, von der zeitgenössischen Wissenschaft aufgeworfenen Fragen auszuweichen, insbesondere denen der Atomphysik, der Evolutionsbiologie, der biologischen Psychologie und der Sozioökonomie. Sein Versuch, Hegel, Marx und Freud zu verschmelzen, hat kein kohärentes System erbracht, und stellt keinen empirischen Forschungsansatz dar. Darüber hinaus verrät sein Vermischen der Konzepte von Wissenschaft, Technologie und Ideologie, dass er von diesen drei Feldern keine Ahnung hat.
? – Aus Ihrer Sicht: Haben Philosophien, die durch nationale Kultur-Systeme geprägt sind in Zukunft noch Einfluss?
Mario Bunge:
Jede echte Philosophie transzendiert nationales Denken. Patriotische Philosophien sind nichts als nationalistische Ideologien.
Medizin-Philosophie
? – Zu Ihrem Buch „Medical Philosophy – Conceptual issues in Medicine“: Ihr Verlag schreibt: “dass wahrscheinlich erste Medizin-philosophische Werk, das die grundlegenden Konzepte der Medizin systematisch analysiert und diskutiert”. – Für viele Ärzte und Patienten mag dieser Titel ein wenig irritierend klingen: Warum braucht die medizinische Domäne eine philosophische Diskussion? Welche drängenden philosophischen Themen könnten sich im medizinischen Feld befinden?
Mario Bunge:
Die dringendste Aufgabe für einen Iatrophilosophen – Medizinphilosophen – ist es, pseudomedizinische Praktiken wie die Akupunktur, Homöopathie und Psychoanalyse zu erkennen und zu verurteilen.
Die allerwichtigsten Aufgaben sind
a) herauszufinden und zu analysieren, wie Ärzte denken, und
(b) die Art und Weise zu evaluieren, wie biomedizinische Forscher Therapien bewerten.
?- Welche Aspekte der Medizin gehören dringend für eine Dauerbehandlung auf die philosophische „Intensiv-Station“?
Mario Bunge:
Die medizinische Diagnostik, das Design und die Prüfung von synthetischen – vom Menschen entwickelten – Medikamenten, und die Zwiespältigkeit des medizinisch-industriellen Komplexes, der auf der einen Seite die Suche nach besseren Therapien stimuliert, aber auf der anderen Seite gleichzeitig Ärzte korrumpiert.
?- Für wen haben Sie dieses Buch geschrieben – muss jemand ein paar Semester Philosophie studiert haben, um Ihre Argumentation zu verstehen und Ihre Vorschläge nutzen zu können?
Mario Bunge:
“Nein! Ganz im Gegenteil!” (auf Deutsch), denn in ein paar Semestern kann jemand lediglich lernen, wer was gesagt hat – dagegen ist es eine Lebensaufgabe zu lernen, wie philosophiert wird. Mein Buch richtet sich an biomedizinische Forscher und an Praktiker, die Medizin als ein spannendes Feld voller unbeantworteter Fragen und überraschender Forschungsmöglichkeiten betrachten – genauso wie das in den Ingenieurs-Wissenschaften oder den Management-Wissenschaften der Fall ist.
?- Was ist Ihre Vision für die Medizin der Zukunft?
Mario Bunge:
Einfach eine Fortführung der wissenschaftlichen Medizin, die in Pariser Krankenhäusern um 1800 aus der Taufe gehoben wurde, der medizinischen und pharmazeutischen Laboratorien um 1850 in Deutschland, der staatlichen Medizin-Ausbildung und der öffentlichen Gesundheits-Initiativen in Europa ab 1900. Medizinische Durchbrüche, ja, aber medizinische Revolutionen, nein danke, außer dort, wo die moderne Medizin bis jetzt noch nicht angekommen ist.
Persönliche Fragen an den Philosophen
? – Woher kommt Ihre Inspiration und der Spaß, beinahe jährlich ein Buch zu veröffentlichen? Wie schaffen Sie dieses Pensum?
Mario Bunge:
Ganz einfach Neugier und der Glaube, dass ich behilflich sein kann. Für mich ist Arbeit keine Belastung, sondern mein größtes Hobby. Deshalb nehme ich mir stets Arbeit mit, wenn ich in den Urlaub fahre. Übrigens – das sind die Momente, in denen mir neue Projekte einfallen: bei der Betrachtung schöner Landschaften oder von Meerespanoramen.
? – Inzwischen sind Sie emeritiert – mit 90 Jahren, beinahe dreißig Jahre später als es an unseren deutschen Universitäten üblich ist. Wie wichtig war Ihnen das Lernen und Arbeiten mit Studenten?
Mario Bunge:
Es war mir sehr wichtig, denn junge Leute denken oft unkonventionell und stellen verblüffende Fragen. Ich vermisse das.
? – Bei der Recherche bin ich darauf gestoßen, dass sie als junger Mann eine „Universität“ gründeten – Können Sie uns dazu ein paar Hintergründe geben – wie es dazu kam, diese Schule zu gründen? Woher kamen Ihre Studenten?
Mario Bunge:
Ich empfand, dass ich die Pflicht hatte, der Gesellschaft etwas zurückzugeben für die kostenlose Ausbildung, die ich genoss. Meine “Arbeiter-Universität” unterrichtete Industriearbeiter und Gewerkschafts-Mitarbeiter. Wir boten Kurse in Maschinenbau, Elektrotechnik und chemischer Verfahrenstechnik sowie in spanischer Sprache, Geschichte, Wirtschaft und Arbeitsrecht an.
? – Zum Abschluss, eine letzte Frage: Sie sind in Argentinien aufgewachsen, wo Sie Ihre Karriere starteten – seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts publizieren Sie schwerpunktmäßig in englischer Sprache und lehren an einer kanadischen Universität. Mit Blick auf dieses international bewegte Leben: Wie wichtig sind für Sie Ihre „südamerikanischen Wurzeln”?
Mario Bunge:
Meine Verwurzelung in der Dritten Welt erinnert mich daran, dass die überwiegende Mehrheit unserer Mitmenschen ein Leben in Hunger, Krankheit und Ungebildetheit führen muss. Und dass die meisten Sozialwissenschaftler, auch in der Dritten Welt, diese hässliche Realität ignorieren. Deshalb handeln meine Aufsätze über mathematische Soziologie nicht von der freien Auswahl zwischen 30 verschiedenen Speiseeis-Geschmacksrichtungen, sondern von der Gesellschafts-Struktur, dem sozialen Zusammenhalt und von gesellschaftlicher Ausgrenzung.
? – Vielen Dank für Ihre detaillierten Antworten und für Ihre Geduld!
Anmerkungen
1: Vgl.: Mario Bunge; „From philosophy to physics, and back“; in: Susana Nuccetelli, Ofelia Schutte, Otávio Bueno (Herausgeber); A companion to Latin American philosophy; Hoboken, New Jersey: 2010; S. 525 – 538. Bunge, Mario; „Philosophy of science and technology: a personal report“; in: Guttorm Flǿistad (Herausgeber), Philosophy of Latin America; Dordrecht: 2003; S. 245 – 272.
2: Vergl.: Alberto Cordero; „Philosophy of science“,in: Susana Nuccetelli, Ofelia Schutte, Otávio Bueno (Herausgeber); A companion to Latin American philosophy; S. 370 – 382.
3: Bernulf Kanitscheider – Geleitwort für: Mario Bunge; Das Leib-Seele-Problem. Ein psychobiologischer Versuch; Tübingen: 1984; S. VIII.
Autor: Heinz W. Droste